Otto Gross an Frieda Weekley
1. Meine Geliebte, ich sehe jetzt, wie sich das Tiefste und Grösste in Dir befreit und wie Du in stiller Kraft Deiner selbst bewusst wirst - wie eine stolze Harmonie in Dir sich vollendet - Du hast die grosse Einfachheit des Ausdrucks gefunden, die unterscheidend für das Vornehmste ist - ich bin noch nicht so weit, dass ich die Worte hätte davon zu sprechen. Ich weiss nur meine Liebe erfüllt von einem unend- lichen Dank für Dein Werden und Sein.
Ich überschaue jetzt die seltsamen Geschicke und Entwickelungen in meiner letzten Werde- zeit und sehe, dass für mich die letzte, frucht- barste und tiefste Krise begonnen hat, wie Du in mein Leben getreten bist. Du hast mir das Glück der Verheissung gebracht und die Prüfung auf den Wert meines Seins. In dieser letzten Zeit erst habe ich am Meisten gelitten und erlebt und erkannt, was ich soll - wenn ich jetzt fest geworden bin, so bin ich es durch Dich,
Nun lebe ich Deinem Kommen entgegen und dem unendlichen Glück. - Frieda, ist es nicht möglich, dass Du die Kinder [1] vorher auf den Continent bringst - zu Deiner Mutter [2] etwa ? So dass Du nicht zurück- kehren musst ? Es ist so unbeschreiblich schwer, Dich wieder zurückzulassen - wenn Du die Kinder nicht in England hast, so bist Du doch freier im Ent- schliessen ? Vermag es wirk- lich eine Macht, Dein herr- liches Leben unterdrückt zu halten - es ist nicht auszudenken - -
2. Ich schicke Dir dem- nächst meine letzte Arbeit [3] - es ist ein Kind des letzten Jahres, ich hab' es gern. Unsere Kin- der aber sind jetzt noch nicht auf der Welt - nur jenes Eine, aber das ist doch gar so klein - : unsere Kinder, das sind die Pro- jecte, mit denen ich recht eigentlich mich selbst und meinen Weg gefunden habe. - In näch- ster Zeit, da ist in Salzburg der erste Congress der Freudschen
Schule, da will ich einen Vortrag anmelden "culturelle Perspectiven" [4] - da will ich mein Programm für mein Leben bringen. - Es ist ein Augenblick, wie er bisher noch ganz ohne Beispiel ist - das wir durch eine prac- tische Methode, durch eine Untersuchungs-Technik auf Einmal in die Wesenheit des geistigen Lebens schauen können - und wer jetzt Augen hat, der sieht in dieser aufgethanen Perspective die Zukunft am Werk - - In dieser Richtung hab' ich freie Bahn, da liegt der riesige Schatten Freud's
jetzt nicht mehr auf meinem Weg - - - - Heute geht Frieda wieder nach Heidelberg [5] - es war eine wichtige Zeit, die wir diesmal ver- bracht haben - ich glaube, Frieda ist nachdenklich geworden. Wir sind den tiefen Fragen, die zwischen uns sind, näher gekommen - ich glaube, Frieda beginnt zu sehen, dass ihre Stellung zu meinem Beruf und meinem Streben darüber entscheiden muss, ob sie mir Liebe geben kann, die unser werth ist - dass zwischen ihr und mehr nur eine Liebe aus dem reichen und freudigen Jasagen leben kann - -
Ich habe in diesen Tagen eine sehr interessante Arbeit, die mir jetzt wunderbar ge- legen kommt. Ich mache den Versuch, durch eine Inter- vention beim Vormundschafts- gericht, die Elisabeth Lang [6] zu befreien, die jetzt von ihren Eltern in einer schand- baren Freiheitsberaubung zuhause gehalten wird. Die Aussichten scheinen gute zu sein - ich habe derzeit für den Advocaten das Gutachten herzustellen und darin nachzuweisen, dass das erzwungene Verbleiben im Elternhaus für sie gesund- heitsgefährlich ist. - Wenn der Process gelingen sollte, so wäre das von einer grossen Tragweite.
3. Es wäre die Erste gerichtliche Anerkennung eines Anspruchs auf Schutz der Individualität - oder wie Einer von den Juristen gesagt hat : der Nach- weis, dass die Philister ge- sundheitsschädlich sind - - Dass der überhaupt erst er- bracht werden muss - - - Geliebte, komm bald, ich sehne mich nach Dir - Du bringst mir ja das Wunderbare, das Einssein in Einer Freude - das Dio- nysische, das ist es - Du bringst mir, dass ich nicht mehr einsam sein muss - Als Bub hab ich gelesen und seltsam wie ein Schicksals- wort empfunden - es heisst
"nam idem velle at que idem nolle" - "Dasselbe wollen im Ja und Nein" [7] - - - - ich hab' auf Dich gewartet, um Das zu finden - dass die lange Sehnsucht und dieses grosse Wollen in einem Rausch der Sinne Leben wird, ist unsere Liebe, Frieda - - Komm bald, komm bald, Geliebte - Dein Otto
1) Frieda Weekley hatte drei Kinder: den 1900 geborenen Charles Montague, die 1902 geborene Elsa Agnes Frieda und die 1904 geborene Barbara Joy 2) Anna von Richthofen, geb. Marquier, die in Metz wohnte 3) Der Aufsatz "Elterngewalt" erschien 1908 in "Die Zukunft", Bd. 65, S. 78-80 4) Der Kongreß fand am 26.-27. April 1908 statt. 5) In Heidelberg besuchte Frieda Gross Else und Edgar Jaffé. 6) Der Aufsatz "Elterngewalt" thematisiert diesen Fall; s. a. War schon verstimt, ehe sie Ausbrüche wegen der [?] hatte. - 7) Eigentlich: "Nam idem velle atque idem nolle, ea demum firma amicitia est" (Denn dasselbe zu wollen und dasselbe nicht zu wollen, das erst ist sichere Freundschaft), Sallust, De coniuratione Catilinae, 20,4. Paderborn 1984. Meinen herzlichen Dank an Prof. Dr. phil. Hans Peter Schramm für die Verifizierung der zitierten Stelle.
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