observations
Spurensicherung: Egon Kuhn und die Geschichte(n) einer Identität
- Vorbemerkung
- Zusammenfassender Bericht zum AM "Egon"
- Nicht unbemerkt unter "Operativer Personenkontrolle" - Von Anschleusungen, GMS "Nelke" und einem weissen Lada
- Legenden, kaum Arbeiter, eine fiktive Adresse und plötzlich Schluss
- Schlussbemerkung
- Fußnoten
Der 28. April 2022 soll ein Festtag in Hannover-Linden werden: das Stadtteilarchiv zur Geschichte Lindens möchte sein 35-jähriges Jubiläum feiern - und dabei nicht zuletzt an seinen Gründer, den früheren Leiter des Freizeitheims in der Windheimstraße, Egon Kuhn, der 2019 verstarb, erinnern. Er habe, so heisst es in einem Bericht von Jonny Peter in der rührigen Stadtteilpostille "Lindenspiegel" (Ausgabe 4/2022, S. 3) in "den 1980er Jahren (...) seine zahlreichen Kontakte und Netzwerke nutzen und zusammen mit Studierenden und MitarbeiterInnen wichtige Bereiche der Lindener Arbeiterbewegung und des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus aufarbeiten" können. Jüngst hat gar ein Verein "Egon Kuhn Geschichtswerkstatt im Freizeitheim Linden" e.V. die Arbeit aufgenommen, der die mit Geldern der öffentlichen Hand erworbenen Dokumente und Fotos, Devotionalien wie Fahnen und Banner der Arbeiterbewegung, eine Bildsammlung des Arbeiterfotografen Walter Ballhause und anderes nun unter seine Fittiche genommen hat. Ob die vom Verein geplanten Jubiläums-Aktvitäten auch eine Würdigung des Veteranen Egon Kuhn umfassen werden, ist unklar, aber anzunehmen. Ich möchte es mir nicht nehmen lassen, einige biographische Details Egon Kuhns vorzulegen.
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Spuren der NS-Verfolgung - in Hannover
Eine äußerst eindrucksvolle Ausstellung präsentiert derzeit das Museum August Kestner in Hannover. Sie trägt den Titel "Spuren der NS-Verfolgung", startete am 6. Dezember und wird noch bis zum 16. Juni 2019 zu sehen sein.
Anlass der Ausstellung ist der zwanzigste Jahrestag der so genannten "Washingtoner Erklärung" vom 3. Dezember 1998, die auch von der Bundesrepublik Deutschland mitgetragen wird und die zum Inhalt hat, während der NS-Herrschaft beschlagnahmte Kulturgüter zu identifizieren, deren Eigentümer bzw. Erben ausfindig zu machen und mit ihnen eine "gerechte und faire Lösung zu finden". Auf diesen Hintergrund macht einiges Filmmaterial aufmerksam, das den Besuchern der Ausstellung zugänglich gemacht wird. In einer Filmsequenz ist der US-Beauftragte Stuart E. Eisenstat zu sehen, der zu Recht auf die bedeutende Rolle der "Monuments Men" (inzwischen auch durch den gleichnamigen Film bekannt, der auch im Rahmen des Ausstellungsprogramm gezeigt werden wird) bei der Sicherung von Raubgut aufmerksam macht, als auch auf die lange Phase der relativen Untätigkeit auf diesem Feld hinweist.
Wenn man so will, ist die Ausstellung die Präsentation eines Zwischenergebnisses der Recherchen nach geraubten Kulturgütern im Besitz der Stadt Hannover, die im Rahmen eines Begleitprogramms, zu dem Vorträge, Führungen, Podiumsgespräch, Lesungen und Filmvorführungen gehören, vertieft werden soll.
Auf den ersten Blick leidet die Ausstellung ein wenig unter den Umbaumaßnahmen im Inneren des Hauses, beim zweiten Hinsehen erschließt sich dem Besucher, dass die vergitterten Gerüste bewusst eingesetzt werden, um die beklemmende Lebenssituation der seinerzeit Verfolgten zu simulieren.
Das Frappierende an der Ausstellung dürfte vor allem in der Dokumentation des Nebeneinanders von legaler und illegaler Ausplünderung der Mitbürger jüdischen Glaubens und von Anpassung und Widerstand zu sehen sein. Die Vertreibung aus dem Beruf, die Bereichung des Regimes durch die so genannte "Judenvermögensabgabe" von mehr als einer Milliarde Reichsmark, die Einführung der Reichsfluchtsteuer wie die staatliche Zwangsarisierung werden in der Ausstellung thematisiert und an einer Reihe von Beispielen verdeutlicht, aber auch die auf dem Boden systematischer Entrechtung sich vollziehende Bereicherung durch Teile der Bevölkerung der Stadt.
Zwei Schicksale stehen zu Recht im Zentrum der Ausstellung:
Da ist zum einen das der Klara Berliner, Eigentümerin der "Villa Simon" in Hannovers Brühlstraße ( zukunft-heisst-erinnern.de/), Tochter des Gründers der Deutschen Grammophon, Joseph Berliner. Sie nahm zahlreiche jüdische Familien in ihr Haus auf, die aus ihren Wohnungen vertrieben worden waren. Infolge des am 30. April 1939 erlassenen "Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden" wurden nach dem 1. Juni 1939 vom Wohnungsamt der Stadt eine Reihe weiterer jüdischer Familien und Einzelpersonen in das Haus zwangseingewiesen. Schließlich wurde sie gezwungen, Haus und Grundstück an die Stadt Hannover zu verkaufen, die Bewohner mussten ausziehen. Klara Berliner wurde im März 1943 von Hannover in das Ghetto Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Aus ihrem Besitz ist in der Ausstellung ein wertvoller Rokokoschrank zu besichtigen, den sich die Stadt Hannover aneignete.
Vom Großburgwedeler Arzt Dr. med. Albert David befinden sich Teile seiner Münzsammlung in der Ausstellung, die sich im Bestand des Museums August Kestner fanden. Bei einer Heimsuchung durch die Gestapo am 19. Mai 1940 hatte sich der jüdische Mediziner vergiftet. Bereits bei der Eröffnung des Testaments galt die Münzsammlung als nicht auffindbar.
Zu den Exponaten der Ausstellung gehören etliche Bücher, die sich in den Beständen von Stadtbibliothek und Stadtarchiv fanden, darunter ein Exemplar von Friedrich Engels' Schrift "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates", das im Zuge ihrer Verhaftung 1933 bei der Studentin Hannah Vogt beschlagnahmt wurde. In der Nazizeit zunächst Aktivistin des Internationalen Sozialisten Kampfbundes um Leonhard Nelson, später Mitglied der KPD, gehörte Vogt zu den ersten weiblichen "Schutzhäftlingen" im Konzentrationslager Moringen (www.gedenkstaette-moringen.de/).
Es gehört zu den Vorzügen der Ausstellung, dass die biographiebezogenen Exponate jeweils mit den Arbeitsansätzen für eine Restitution verbunden werden. So heisst es bei dem Buch aus dem Besitz von Hannah Vogt: "Zwei Familienangehörige konnten ausfindig gemacht werden. Eine Rückgabe des Buches ist vorgesehen." Im Falle von Klara Berliner wird darauf verwiesen, dass die Provenienzforschung der Landeshauptstadt Hannover derzeit Erben sucht, bei Dr. David wird gefragt, wer wohl einen Rechtanspruch auf die Goldmünzen hat? So werden die Museumsbesucher animiert, sich in den Prozess der Aufklärung und Restitution nach Kräften einzubringen, was durchaus empfehlenswert ist.
Weitere Informationen: Programm (pdf-Datei, 790 KB)
NS-Raubgut in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek
Die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek hat in der Zeit vom November 2008 bis zum Oktober 2010 nach NS-Raubgut in ihren Beständen geforscht. Als Ergebnis dieser Recherche ist seit einiger Zeit in einem Sonderregal im Lesesaal eine mit "Verdacht auf NS-RAUBGUT" bezeichnete Sammlung zu besichtigen und unter http://opac.tib.eu/DB=3.1/LNG=DU/ auch im OPAC der Bibliothek ausgewiesen.
Dazu gehören
- Bücher, die über das Finanzamt eintrafen (denen nach Verabschiedung der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz ab Oktober 1941 die "Verwertung" des Eigentums sämtlicher emigrierter und deportierter Juden oblag),
- Bücher, die über die Preußische Staatsbibliothek in Berlin verteilt wurden (die durch Erlass des Preußischen Finanzministers vom 28. März 1934 zur "Zentralstelle" für beschlagnahmtes, so genanntes schädliches und unerwünschtes Schrifttum fungierte und diese Literatur an die Universitätsbibliotheken abgab) und
- Bücher aus Straßburg (Elsass) und Metz (Lothringen), insgesamt 135 Titel, bei denen nicht abschließend geklärt werden konnte, auf welchem Weg sie in die hannoversche Bibliothek gelangten.
Aktuell umfasst die Sondersammlung 374 Titel.
Weitere Informationen: NS-Raubgut in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (pdf-Datei, 2,1 MB)
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Alte Freunde, neue Freunde und das revolutionäre Subjekt: Otto Gross, Erich Mühsam und Eduard Schiemann
"(…) Ferner gehörten zum Tat-Kreis der Maler und Zeichner Robert Scheidegger, geb. 1882 in der Schweiz; der Schriftsteller Ludwig List, geb. 1883 in Österreich [...], der Kunstmaler Juan Babtist Carbonel aus Barcelona, geb. 1880, der Kunstzeichner Eduard Schiemann, geb. 1885 in Rußland, der Zeichner Ernst Frick, geb. 1881, der stud.phil. Alexander Schmied, der praktische Arzt Dr. med. Ludwig Arthur, geb. 1874 [...], der Student und Schriftsteller Friedrich Klein, geb. 1882 [...], der künftige Maler Georg Schrimpf, geb. 1889 [...], der Schriftsteller Oskar Maria Graf, geb. 1894 [...] und der Student der Nationalökonomie und Literat Franz Jung, geb. 1888 [...].“ (Linse, Organisierter Anarchismus im deutschen Kaiserreich von 1871, S. 94 FN 81)
Die summarische Aufzählung der beteiligten Protagonisten in Ulrich Linses Schrift "Organisierter Anarchismus“ ist ein wenig irreführend, denn tatsächlich sind längst nicht alle an der Gruppe "Tat“ beteiligten Personen genannt. Außerdem sind die genannten nicht zeitgleich aktiv. Immerhin: Eduard Schiemann, mit dem ich mich vordringlich beschäftigen werde, ist dabei, der zweite Hauptakteur meiner Darstellung - Otto Gross - bleibt ungenannt und spielt doch im Leben Erich Mühsams und bei der Entwicklung der Gruppe "Tat“ eine nicht unbedeutende Rolle.
Verweilen wir zunächst bei Schiemann, der in den Tagebüchern Erich Mühsams nur an zwei Stellen auftaucht: Am 25. September 1910 finden wir ihn dort - wenig schmeichelhaft von Mühsam als "Hochstapler und ehemaligen Kulturgründer" tituliert - und am 27. Februar 1912 - "in aller Länge wieder aufgetaucht" - mit Mühsam in München friedlich beim Billard vereint. Die Charakterisierung Schiemanns ist kurz, mysteriös und typisch ironisch: Was sich hinter der Formulierung "Hochstapler und ehemaliger Kulturgründer" verbirgt, bleibt einigermaßen unklar (auch Mühsam-Biograph Chris Hirte wusste aktuell keinen Rat), immerhin wissen wir, dass Schiemann fast zwei Meter groß war und insofern Grund hatte, "in aller Länge“ wieder aufzutauchen.
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Franz Jungs Beerdigung
"Übrigens war ich damals dabei, als Franz Jung auf dem Waldfriedhof bei Stuttgart beigesetzt wurde. Es war eine makabre Szene: Im gemessenen Abstand stapfte bei klirrender Kälte ein Mann auf dem Friedhof auf und ab und störte die Beisetzung, die kurioser Weise von einem katholischen Priester vorgenommen wurde. An Franz Jung erinnere ich mich noch sehr gut, er hat mich damals, als er seine Autobiographie schrieb, in Marbach besucht." (Paul Raabe, Brief vom 5. Januar 2000)
"Am 16. Januar bekam Jung hohes Fieber und wurde auf Artur Müllers Veranlassung als Privatpatient in das Stuttgarter Karl-Olga-Krankenhaus gebracht. Dort traf ihn ein Gehirnschlag. Er war teilweise gelähmt, konnte selber nicht mehr lesen, ließ sich aber vorlesen. Als Jung am 21. Januar 1963 um 1 Uhr mittags einem Herzinfarkt erlag - laut Eintrag handelte es sich um 'Gallenblasen-Carcinom mit Lebermetastasen, Herzinfarkt, Encephalomalacie' - hatte er, gestärkt durch die Sterbesakramente, mit dem Leben hier in Frieden abgeschlossen. 'Auf seinem Gesicht lag ein mildes, verstehendes Lächeln.' Am 25. Februar 1963 wurde Franz Jung auf dem Neuen Friedhof in Stuttgart-Degerloch beigesetzt. Paul Raabe vom Schiller-Nationalmuseum in Marbach, dessen lebhaftes persönliches Engagement für die Expressionisten und den Expressionismus Jung schätzte, hat die Stunde in einem Brief an Cläre Jung aufgerufen:
"Jung, ein ehemaliger Korpsstudent, das Gesicht voller Schmisse, die Augen vom Trinken und von nicht geschlafenen Nächten entzündet, Anarchist und Katholik, ich sah ihn in der Messe knien, entschlossen in die Hölle zu gehen, weil es eine gibt [...], war ein rührender Helfer, wenn man Hilfe nötig hatte und ein niederträchtiger Zerstörer. wenn man keine brauchte. Ein Mensch ohne Furcht, weil er alles Materielle verachtete und nicht benötigte." (Ernst Josef Aufricht: Erzähle, damit du dein Recht erweist, 1966, S. 129)
Literatur
- Barthel, Max: Blockhaus an der Wolga. Berlin: Der Freidenker Verl.-Ges. 1930 (Jungs Schiffsentführung, S. 47f., Jung als kleiner "Napolium", der kein Wort herausbringt)
- Behrendt, Friedel: Eine Frau in zwei Welten. Berlin: Verl. der Nation 1963 (Autobiographie einer Kommunistin, die 1945 endet; schildert kurz die Schiffsentführung Jungs, S. 68)
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Gustav Landauer und Margarethe Faas-Hardegger
"Noch ein paar Worte zum Umfeld. Landauer ist also auf Einladung eines gewissen Mark Harda in die Schweiz für eine Vortragstournée gekommen. Mark Harda entpuppt sich als junge, hübsche und politisch sehr engagierte Frau. Die beiden verlieben sich ineinander. (Das sagt zwar niemand so in unseren Quellen, dünkt mich aber mehr als offensichtlich). Nun hat Landauer ein Problem. Anscheinend hat er Margrit gesagt (versprochen?), dass er 'alles' seiner Frau Hedwig Lachmann erzählen will, schiebt dies aber ständig auf.
Brief Nr. 9
Donnerstag, gegen Mitternacht
Du liebe Margret! ich kann so gut arbeiten; ich habe das zweite Stück des Vortrags eben in diesen Abendstunden geschrieben, und ich danke es Dir. Ich glaube, es wird gut; aber ich sehe, es wird lang; unter zwei Stunden thu ich's, scheints, auch nicht für die Lesenden. Bald schreib' ich's Dir ab.
Aber ich habe noch immer keinen Brief von Dir, und ich lebe in grosser Sehnsucht.
Du! ich schreibe das so gesetzt, so verhalten. Weisst Du denn aber, wie ich mich beherrschen kann? Wie mir's das Leben beigebracht hat? Weisst Du, wie es eigentlich hinter meiner Ruhe kocht und stürmt? und wie ich es eigentlich, in meinem wahren Wesen, gar nicht aushalte, so von Dir getrannt zu sein? Weisst Du, dass das alles gar nicht so recht ich bin, der da so fortlebt und der da arbeitet? Er schreibt, und ich bin bei Dir. Wie wahr und gut hast du das jüngst gesagt, wie es in der Seele weiterarbeitet, wenn auch der Leib andern Dingen nachgeht. Nur dies Arbeiten in den Nachtstunden ist was Rechtes: ich bin bei dir und schreibe mit dir. Und dann der Schlaf, wo mir ein Traumleben aufgeht, die nicht seit langem. Ich bin da jetzt immer bei dir, fleischlich in absonderlichen Gestalten, wie sich's für den Traum gehört. Vorgestern hab' ich von Dr. Brubpacher (sic!) geträumt; erst von einem dicken, wissenschaftlichen Werk von ihm, in dem ich ganze Seiten las: es war gegen den 'Unsinn der Liebe' gerichtet. Dann erfuhr ich wieder, er sei aus Liebeseifersucht nicht in die Züricher Versammlung gekommen. -
Gestern war eine Gerichtsverhandlung gegen mich: es wurde mir nachgewiesen, der Knochen, den ich an dem schönen Bergsee unterhalb des Faulhorns gefunden habe (er ist einer meiner Talismane aus der Zeit mit dir: neben einer Sicherheitsnadel, einem kleinen Tüchlein, und einem Kiesel vom Rorschacher Ufer), dieser Knochen sei kein Kuhknochen, sondern vom Fuss eines schönen Mädchens, und ich verteidigte mich: ja, es sei wirklich der Knochen eines schönen Mädchens, aber das sei kein Beweis, dass ich sie ermordet habe. Und dann wache ich immer einen Augenblick auf und fühle zu dir hin.
Margrit, ich will morgen einen Brief von dir finden.
Freitag. Aber ich habe ihn nicht gefunden ..." (Regula Bochsler, Mail vom 16. Februar 2000)
"hoffentlich ist der 'zunft' bekannt, daß faas-hardegger und landauer doch sehr üppig und inniglich verliebt waren und daß im 2bändigen briefband landauer von 1927 doch ausführlich gross und nohl etc. erwähnt werden - fragt zaghaft ein türeeintreter.
mir hat einmal pinkus erzählt, wie er den nachlaß von faas-hardegger in pappkisten geborgen hat, da sie im tessin standen und zum teil nicht so recht unterm dach war viel von wasser und mäusen zerstört ---" (Hansjörg Viesel, Mail vom 18. Januar 2003)
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Czernowitz 1919
In der Zeitschrift “Der Nerv” (Jg. 1, 1919, Nr. 1, Jänner, S. 16, in: Wichner, Ernest & Herbert Wiesner: Der Nerv. Eine expressionistische Zeitschrift aus Czernowitz. Berlin: Literaturhaus, 1997, S. 33) findet sich unter den “Antworten der Schriftleitung” folgende Anmerkung: "Art. K. Unsere Information: Das im ”Cz. M.” [d.i. das "Czernowitzer Morgenblatt"] gebrachte, von Georg Bittner gezeichnete Pamphlet: Die Wiener 'Rote Garde' ist aus dem Wiener 8 Uhr Blatt Nr. 1249 geschnitten. Die im zitierten Artikel gegen E. E. Kisch, Franz Blei und Franz Werfel erhobenen Anschuldigungen sind den Tatsachen nicht entsprechend. Die Wiener 'Rote Garde' wurde von einem Czernowitzer Medizinstudenten gegründet. Erst später übernahm Oblt. E. E. Kisch die Organisation. Franz Werfel hat der 'Roten Garde' überhaupt nicht angehört, Franz Blei ihr ferngestanden. Die Schießerei vor dem Parlament, deren Ursache auch heute noch nicht einwandfrei festgestellt wurde, sah nach unserem Gewährsmann ganz anders aus, als Artikelschreiber Bittner darstellt. Heute sind die erwähnten Schriftsteller der Angelpunkt des Jung-Wiener Literatenzirkels im Café 'Herrenhof', antipodisch dem monarchischen Kreise Hermann Bahrs im Café 'Kaiserhof'.”
Dazu merkt Hans Hautmann an: “Bei dem 'Czernowitzer Medizinstudenten' kann es sich nur um den Korporal Stephan Haller handeln, der eigentlich Bernhard Förster hieß. Egon Erwin Kisch nennt ihn in seiner Erinnerungen 'Kriegspropaganda und ihr Widerspiel' als denjenigen, der den eigentlichen Anstoß zur Bildung der 'Roten Garde' gab, bei einer Versammlung am 30. Oktober 1918 unter freiem Himmel. Der Satz: 'Erst später übernahm Oblt. E. E. Kisch die Organisation' ist sehr relativ zu nehmen, denn es handelte sich nur um ein, zwei Tage später, dann gemeinsam mit dem am 1. November 1918 aus der Haft im Wiener Landesgericht entlassenen Leo Rothziegel. Über Haller ist nur sehr wenig bekannt. Der bald schon in die Volkswehr eingegliederten 'Roten Garde' gehörte er nicht mehr an. Eine Erklärung geht dahin, dass er als 'wohnhaft in Czernowitz' vom Wiener Polizeipräsidenten Schober noch vor den Ereignissen des 12. November 1918 vor dem Parlament aus Österreich ausgewiesen wurde." (Mail vom 18. Januar 2007)
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Johannes Nohl
Der Nachlass von Johannes Nohl steht InteressentInnen in der Akademie der Künste in Berlin zur Verfügung. Adresse: Robert-Koch-Platz 10, Berlin-Mitte, in der Nähe der Charité. Öffnungszeiten: täglich montags - freitags 09.00-17.00 Uhr, donnerstags bis 19.00.
Details zum Nachlassbestand:
Johannes Nohl, Schriftsteller, 1882-1963
Dora Wentscher, Schriftstellerin, bildende Künstlerin, 1883-1964
Archiv und Bibliothek
5,5 lfm., 309 Bde.
Werkmanuskripte von Johannes Nohl, vor allem literaturgeschichtliche Arbeiten, u.a. zu Karl Philipp Moritz und Jean Paul, kunstgeschichtliche Studien zur Malerfamilie Tischbein, autobiographische Aufzeichnungen; Werkmanuskripte von Dora Wentscher, darunter autobiographische Prosa über die Zeit im sowjetischen Exil, publizistische und literarische Texte über Heinrich von Kleist, ein Hörspiel, editorische Unterlagen, Materialsammlungen; Korrespondenz mit Familienangehörigen, Schriftstellerkollegen und Freunden, u.a. mit Johannes R. Becher, Klara Blum, Auguste Lazar und Nico Rost; Geschäftskorrespondenz; persönliche Unterlagen, Tagebücher und Photos; Manuskripte fremder Autoren; bildkünstlerische Arbeiten, z.T. von Dora Wentscher. Bibliothek: Primärliteratur von Dora Wentscher, zahlreiche Exemplare mit Anstreichungen, Widmungsexemplare; Belletristik, Sachliteratur zu Geschichte und Kunstgeschichte.
Nohl befand sich bei Otto Gross in Analyse und war lange eng mit Erich Mühsam befreundet. Albrecht Götz v. Olenhusen berichtete in seinem Referat auf dem 1. Internationalen Otto Gross Kongress, dass Nohl Hermann Hesse analytisch behandelte. In der DDR war Nohl u.a. bis zu dessen Flucht in den Westen als Sekretär von Theodor Plivier und Schriftsteller tätig. In zweiter Ehe war er mit Dora Wentscher verheiratet, aus der ersten Ehe stammt der Sohn Friedrich August, der als Arzt in Schleching/Obb. tätig war, und die Tochter Ursula, spätere Berkel, deren Sohn Johann Peter, also der Enkel von Nohl, in Berlin lebt(e). Der Bruder, Herman(n), 7.10.1879 - 27.9.1960, lebte in Göttingen und gilt als bedeutender Pädagoge (vgl. Deutsche Biographie, www.deutsche-biographie.de/sfz72294.html)
Der Nachlass von Nohl ist stark dadurch dezimiert, dass fast seine gesamte Habe (besonders Briefe und Bibliothek) während des 2. Weltkriegs in Berlin durch Bombeneinwirkung vernichtet wurde. In seinem Nachlass befindet sich, wie wir feststellen konnten, eine Arbeit in der er sich mit Gross beschäftigt: Nohl, Johannes: Die kriminalistische Bedeutung der Psychoanalyse, in: Berliner Börsenkurier, Nr. 105 v. 2. März 1924, Beilage. Wenn ich mich richtig erinnere, hat auch Franz Jung für den Börsenkurier gearbeitet.
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Golo Mann und Hans Jaffé
Golo Mann berichtet in seinen "Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland" (Frankfurt/M. 1986) über seine Bekanntschaft mit Hans Jaffé, Sohn von Else und Edgar Jaffé. Er lernte ihn im Zug auf dem Weg ins Schulinternat Salem kennen und ging mit ihm dort zur Schule. Er besuchte ihn zuhause in Heidelberg und lernte die Mutter Else kennen. "Diese, Frau Else, war eine geborene von Richthofen, ihre Schwester die Witwe des Schriftstellers D. H. Lawrence, die in New Mexico lebte, und ich habe sie nie kennengelernt. Vor wenigen Jahren erschien in den USA ein Buch The Richthofen Sisters; nur aus ihm, spät, erfuhr ich so ganz, mit welch bedeutender Persönlichkeit ich es in Heidelberg zu tun gehabt hatte, wie solches mir öfters geschah. So viel wußte ich immerhin damals schon: sie war eng mit dem großen Max Weber befreundet gewesen, und war es nun mit dessen Bruder, Geheimrat Alfred Weber, von Haus aus Nationalökonom, während Max als Jurist begonnen hatt. Daß die Beziehung der beiden Brüder einen zärtlichen Hintergrund besaß, ahnte ich nicht, naiv wie ich in solchen Dingen war. Vor allem aber wirkte Frau Else als geistige Beraterin, als Diotima der beiden." (S. 282).
"Die Webers [gemeint sind Marianne und Max Weber] hatten eine Schwester gehabt, Gattin eines Architekten namens Schäfer, gefallen gleich zu Anfang des Krieges in Ostpreußen. Danach wurde Frau Schäfer Lehrerin in der Odenwaldschule, wo ihre drei Söhne auswuchsen. Sie nahm sich dort das Leben, weil der Leiter der Schule, Paul Geheeb, sie geliebt und dann verlassen hatte." (S. 282).
"Die nun elternlosen Söhne der Frau Schäfer wurden von Max Weber und seiner Frau Marianne, adoptiert, zumal das Ehepaar kinderlos war. Der Jüngste starb als Gymnasiast, den Ältesten kannte ich kaum, der in der Mitte, Max geheißen, ein schöner, etwas zur Schwermut neigender Mensch, wurde binnen kurzem ein naher Freund von mir. Viele Jahrzehnte später, kurz vor ihrem Tod, besuchte er die uralte, fast erblindete Frau Else Jaffé. Sie strich ihm durch das Haar, murmelnd: 'Noch einmal einen Weber-Schädel in der Hand zu haben!'" (S. 283)
Hans Jaffé studierte, so Golo Mann, in Göttingen Physik, wo Mann ihn mehrfach besuchte, später wohnte er zeitweise gleichfalls dort.
Tilman Lahme, der gegenwärtig in Göttingen eine historische Dissertation über Mann erarbeitet, teilt mit, daß Hans Jaffé später in die USA emigrierte "und [...] wohl als Physiker in Cleveland, Ohio tätig" war. "Etwa 1977 muß er gestorben sein." (Tilman Lahme, Mail vom 26. Juni 2004)
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... welch eine Flamme war verloht - Richard Oehring
(1) (Otto) Richard (Hermann) Oehring entstammt einer protestantischen Familie und wurde am 16. Juni 1891 in Düsseldorf als Sohn des Telegrafendirektors Alfred Oehring und seiner Frau Johanna Antoinette geboren. Mit 17 Jahren geht er zusammen mit Alfred Wolfenstein in dieselbe Klasse des Luisenstädtischen Gymnasiums in Berlin. 1909 Abitur. Er zählt zum Freundeskreis der Dichterin Henriette Hardenberg und ihres Bruders Hans. Er nimmt ein Studium in München auf und stößt zusammen mit seinem Bruder Fritz zum Kreis um Erich Mühsam und die Gruppe “Tat”, der auch Oskar Maria Graf, Franz Jung und Georg Schrimpf angehören. Zurück in Berlin schreibt er als Wirtschaftsjournalist Beiträge für “Buchwalds Börsenberichte”. Ab 1912 arbeitet er für die "Die Aktion" und veröffentlicht dort eigene lyrische Werke. Die Novelle “Der Käfig” entsteht. 1913/1914 gehört er zusammen mit Gottfried Benn, Paul Boldt, Alfred Lichtenstein, Franz Pfemfert und anderen zu den Protagonisten der Autorenabende der "Aktion".
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Eduard Schiemann - der “lange Russe” mit dem unfehlbaren System
1905 kommt Franziska Schiemann, geb. Beckmann, nach München. Die 43-jährige Witwe des Kaufmanns Eduard Schiemann sen. (gest. 1908) sieht in der bayerischen Hauptstadt womöglich für sich und ihren 19-jähriger Sohn die günstigsten Möglichkeiten für eine weitere Existenz. Schließlich lebt in München mit Agnes Schiemann eine Verwandte, hier bietet sich außerdem für den am 14. Mai 1885 im russischen Saratow geborenen Sohn, eine gute Gelegenheit, seine Studien fortzusetzen. Noch studiert er - der wie der Vater den Namen Eduard (Gustav) trägt - in Karlsruhe, aber schon im Februar 1906 zieht auch er nach München, bezieht mit der Mutter eine gemeinsame Wohnung in der Mandlstr. 1a/III, und will sein Studium an der Kunstakademie fortsetzen. Eduard Schiemann ist von auffallender Gestalt, schlank, gutaussehend und fast zwei Meter groß. Er wird recht schnell in der Münchener Bohème heimisch: Im Juli 1908 notiert Franziska Gräfin zu Reventlow in ihrem Tagebuch:
Die letzte Nacht bei Schiemann geschlafen, sassen Abends im Leopold Lisa u. ich ganz melancholisch, dass es nur Trennung u. kein Obdach mehr giebt. Sie zog mit Willy Müller ab, mich führte Sch. heimlich zu seiner Höhle, wo Bubi schon schlief. Zündhölzer vergessen u. mich etwas verzweifelt in der fremden dunklen Wohnung herumgetappt. Bett entsetzlich schmal, schliesslich mich auf den Boden gelegt, erst gegen Morgen etwas geschlafen. Früh mit Bubi gesentimentalt, es war uns doch etwas leid, im Sommer hat wenigstens das grosse Atelier seinen Reiz gehabt mit Vogelzwitschern u. Frühsonne. Und die Gewitter Nachts. Den Morgen ganz verkatert, noch die letzten Gänge gethan u. den Packern zugesehen. Nach Tisch zu Strahlendorff ausgeruht, Café getrunken, warmes Bad genommen. Abend Bubi u. ich zu Friess übergesiedelt. (Reventlow, Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich, S. 491)
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