Zusammenfassung

Otto Gross antwortet auf einen Brief Frieda Weekleys, in dem sie ihm mitgeteilt hat, daß sie nach Amsterdam kommen und ihn dort treffen wird.

Er hat ein Bild von ihr bekommen und konstatiert, daß er an ihr darauf die "grosse Geberde" entdeckt habe - vermutlich eine einladende Handbewegung, die Betrachter (also ihn) zum Herankommen auffordert, als erotisches Signal für ein "unvergleichlich reiches und heisses üppiges
Sich-Schenken" gemeint.

Er fühlt, daß er durch das "Loskommen vom Narkotisieren" mehr er selber ist als bei ihrem letzen Zusammentreffen. Sie solle jetzt "das denkbar Höchste" von ihm verlangen. Er betrachtet ihre Liebe nicht als "eine Art von Trösten" und hofft, sie erneut glücklich machen zu können. Sie soll ihm nun noch "ein Grosses dazu" geben (ein Kind?).

Mit ihrer Freude an ihm, so schreibt Otto Gross, heile sie ihn vom Gift.

Otto Gross an Frieda Weekley


1.
Meine Geliebte,
ich kann gerade schreiben - ich
glaube, das macht Dein letzter Brief,
der hat mir Ruhe und Glück gegeben
- ich hab's gebraucht, in diesem Zustand
fühlt man immer ein unbekanntes
Drohen hinter sich und kann so schwer
die Ruhe finden - - dass Du, Geliebte,
nach Amsterdam kommst [1], dass Du
wirklich zu mir kommst
- das hat mich
so wunderbar in die Höhe gehoben -
Du, ich werde Dich mit befreitem Geist
lieben - viel schöner, so wie man Dich
[???? mehrere Worte unleserlich] rein ist
diese Stellung - - so hinreissend bist Du,
Geliebte! - Du, Deine Seele kenne ich,
so weit sie sich verstehend ermessen lässt
- Du bist mir so vertraut und so wunder-
bar neu - für immer neu und wieder neu -
ich habe Deine Seele blühen gesehen, nicht
nur "geahnt" - - das Leuchtende sieht man
- wenn man dazu die Augen hat, das Schauen
in's Licht ist nicht vielen gegeben - so reiche schwere
Schätze einer wunderbar reinen - von einem
genialen Auf-Sich-Beruhn so rein erhaltene
Seele hab' ich in Dir gesehen und genossen -

Dein neues Bild vor mir sehe - Du Himmel
segne Dich, Du Zukunftsweib ! Weisst Du
wohl selbst, was dieses Bild entdeckt -
dass Dir die grosse Geberde gegeben ist
und die hohe Kunst, aus Deiner Schönheit
immer neue Schönheit selber [2] zu schaffen ?
Die Kunst, das Glück zu schenken in
grösster Einfachheit zugleich und im Be-
wusstsein, dass Du unschätzbare
Gaben schenkst - - Das ist so unvergleichlich
gross in Der Geberde auf diesem Bild - so
unvergleichlich reiches und heisses üppiges
Sich-Schenken und so viel Adel und Hoheit
so überaus ganz in Flammen - -
ich fühle jetzt bereits, dass ich
mich selber wiederfinde durch das Los-
kommen vom Narkotisieren - dass ich
mehr ich selber noch bin als damals -
und je freier und stärker ich bin, je
heller und weiter es wird um mich, desto
höher und grösser ist auch meine Liebe
zu Dir, desto stärker und voller und reicher
- auch ich, Geliebte, werde jetzt Deiner
Liebe entgegengewachsen sein. Du musst
das denkbar Höchste von mir verlangen,
Geliebte : es ist gerade gut genug für Dich.
Wie heiss ich Dich doch lieben muss, wenn ich [3]

2.
Weisst Du nun auch, warum ich
Dich brauche ? Nicht wahr, Du weisst
es gut, dass unsere Liebe etwas viel zu
Starkes ist, als dass ich an [4] etwas in der
Art von "Trösten" denken dürfte - ich
mag so etwas gar nicht herschreiben.
Du weisst auch, das Glück, dass Du
giebst, ist ein so unsäglich reiches und
volles, dass es die ganze Seele mit Sonne
bis zum Grund erfüllt. Wenn es mir
noch bestimmt ist noch einmal Dich
wie ehedem glücklich zu machen,
dann ist die Kraft noch mein, in der Freude
Gutes und Grosses zu schaffen - -
Wenn ich noch einmal mein vollendetstes
und herrlichstes Werk wie damals wieder-
sehen darf, als ich um dieses Werkes
willen mir selber zu Freude geworden bin :
Dein Glück. -
Du hast wohl nie gewußt, was
Du mir damals gegeben hast in dem
Bewußtsein, Dich, Du Prachtvolle, glücklich
machen zu können - - als wenn ich hätte
der Welt eine Sonne schenken können.
Lass mich die Sonne sehen ! - Nun
bist Du reich an Liebe, [? Wort unleserlich] Du - wenn
Du mich jetzt noch so lieb hast wie damals,
dann giebst Du mir noch ein Grosses dazu,

das weisst Du wohl ? In Glück und Pracht
der Liebe, verschwenderisch schenkend und
geniessend in lebensbejahender Freude
- so wäre Dein Leben der Königs-
mantel Deiner Schönheit, Geliebte - -
So möchte ich Dich finden und fragen,
ob Du mich lieb behalten hast - - -
Geliebte, wenn Du zu mir kommst
und hast mich noch lieb und hast noch
Freude an mir
- mit Deiner Freude heilst
Du mich vom Gift und Deiner Freude
werde ich mein Bestes
verdanken. Wenn
mir bestimmt ist gesund zu werden,
[?????? mehrere Worte unleserlich] Leuchten Deiner
geliebten Augen sein. Du wirst Dich dann
schmücken mit einem Kettle ums Knie
und wir werden uns lieben mit Lachen
und Jubeln und alle Reinheit einer
besseren Menschenzukunft wird dann mit Deinem
Lachen über uns fluthen - - Du wirst
mich wieder wie damals fragen, ob du
komische Ohren hast, und ich werde
diese Ohren küssen, die nichts von all dem
lebensmörderischen Wahn und Zwiespalt
dieser armen Menschheit vernommen haben
und silbernes Glockenklingen der Zu-
kunft hören - - -
Otto


1) vermutlich im September 1907. Gross will in Amsterdam am Kongreß für Neuro-Psychiatrie teilnehmen, der vom 2.-7. September 1907 dort stattfindet, und referieren
2) Das vorstehende Wort wurde von O. G. nachträglich in den Text eingefügt
3) Vermutlich ist diese Zeile vor der ersten dieser Briefseite ("Dein neues Bild vor mir sehe - Du Himmel") zu lesen
4) Das vorstehende Wort wurde von O. G. nachträglich in den Text eingefügt