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Datum:
4. 1. 1936
Ereignis:

C. G. Jung schreibt an Fritz Wittels: "Ich habe in der Tat Dr. Otto Gross gut gekannt, und zwar habe ich ihn kennengelernt vor nunmehr 30 Jahren, 1906, als er in der Zürcher Klinik wegen Kokainismus und Morphinismus interniert war. Von eigentlicher Genialität kann man nicht reden, sondern eher von einer genialischen Instabilität, welche viele Menschen blendete. Er hat Psychoanalyse getrieben in den verruchtesten Kneipen. Gewöhnlich endeten die Übertragungsgeschichten mit einem unehelichen Kinde. Er litt an einem grauenhaften Mutterkomplex, welchen die Mutter ihm auch konsequent anerzogen hat. Er war von unendlichen Süchten geplagt, und fütterte diese vorzugsweise mit Alcaloiden, welche ihn zeitweise in einen sozusagen psychotischen Zustand versetzten. Da ich Gross nach 1906 nie mehr sah, kann ich über sein späteres Leben, das übrigens nur noch wenige Jahre dauerte, nichts Bestimmtes sagen. Jedenfalls hat er 1906 nicht an Gehörshalluzinationen gelitten. Er war in der Zürcher Klinik zwei Mal interniert, wo ich ihn beide Male hauptsächlich wegen Kokainismus behandelt habe. Er erfreute sich eines unbeschränkten Grössenwahns und war immer der Ansicht, dass er die Aerzte inklusive meiner selbst psychisch behandle. Er war schon damals sozial vollkommen verlottert. Er hat überhaupt nie irgendwelche systematische Arbeit geleistet, mit Ausnahme seiner Schrift über die Sekundärfunktionen, welche eine Theorie über die psychophysische Restitution der Reizfähigkeit enthält. Ich habe seine wesentliche Idee auch in mein Typenbuch aufgenommen. Sie ist an verschiedenen Orten, z.B. in Holland und Amerika gelegentlich von Psychologen wieder aufgenommen worden. Sie ist unzweifelhaft ein glücklicher Gedanke, der als allegorische Formel für gewisse Reaktionsabläufe entschieden verwendungsfähig ist. Sonstige Zeichen von Genialität habe ich keine beobachtet, wenn man nicht Gescheitschwätzerei und die Problemwälzerei als schöpferische Symptome ansieht. Er war sittlich und sozial völlig verlumpt und auch physisch infolge von Excessen dermassen heruntergekommen, dass er, wenn ich mich recht erinnere, noch vor dem Kriege einer Pneumonie erlag. So wenigstens bin ich berichtet worden. Er hat sich hauptsächlich mit Künstlern, Litteraten politischen Schwärmgeistern und Degeneraten jeglicher Beschreibung herumgetrieben und im Sumpfe von Ascona ärmlich-grausame Orgien gefeiert. Ich muss meine sehr negative Schilderung aber doch noch dahin ergänzen, dass in all dem ungesunden Wust, den er entwickelte, gelegentlich etwas wie Geistesblitze aufleuchteten, um derentwillen ich mich bei seinem Anstaltsaufenthalt um ihn bemüht habe, allerdings ohne den geringsten Erfolg. Mit vorzüglicher Hochachtung, Ihr ergebener C.G. Jung."

Quellen:

Heuer, Die Wiederkehr des Verdrängten, in: Heuer (Hrsg.): 2. Internationaler Otto Gross Kongress, Marburg 2002, S. 97

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