In einem Katalog des hannoverschen Antiquariats “Die Silbergäule” wird die Sammlung Fritz Picard vorgestellt. Picard (geb. 1888) war, so heißt es dort, einer der außergewöhnlichsten Menschen im deutschen Buchhandel. Er - und seine Buchhandlung Calligrammes in Paris - haben “über 50 Jahre das literarische Leben mitgeprägt”. Picard wurde mehrfach interviewt, u.a. Anfang der 1970er Jahre von Michael Stone, dem Sohn von Mizzi Kuh.
In diesem Interview, das im Katalog z.T. wiedergegeben ist, heißt es: “Marianne Kuh, genannt Mitzi, die Schwester des Wiener Schriftstellers Anton Kuh, war eine der interessantesten weiblichen Erscheinungen des Wiener Caféhauses. Picard war mit ihr befreundet; er berichtet, wie sie gemeinsam mit ihrem damaligen Liebhaber, dem Psychologen Otto Gross, auf einer Soirée bei Kafka eingeladen waren. Er konnte mit Kafka sprechen, erinnert sich aber nur an das von Krankheit gezeichnete Gesicht. Es sollte die einzige Begegnung mit Kafka bleiben.” (Vgl.: Sammlung Fritz Picard Librairie Calligrammes Paris. Hannover: Die Silbergäule 1992, S. 17)
Picard lokalisiert die Begegnung mit Kafka nach Berlin. In welchem Jahr mag sich die Begegnung dort zugetragen haben? Nach den überlieferten Begegnungen mit Kafka am 18./19. und 23. Juli 1917 in Wien? Wie oft war Kafka in Berlin?
Shinji Hayashizaki, Osaka, schreibt dazu: “Ich glaube, dass Kafka Picard in Berlin um 1920 nicht getroffen hat. Kafka war im Dezember 1910 in Berlin, dreimal 1913, um Felice zu sehen, zweimal 1914, um sich zu verloben und zu entloben, und Ende September 1923 bis Anfang 1924 um dort mit Dora zu leben. Otto Gross, Mizzi Kuh und Franz Kafka in Berlin um 1920, etwas davon ist falsch.” (Mail vom 3. März 2003).
Rainer Stach bestätigt das: “Da kann tatsächlich etwas nicht stimmen. Zum einen: Kafka war zwischen 1914 und 1923 nicht in Berlin, das ist sicher. Zweitens: Ein ‘von Krankheit gezeichnetes Gesicht’ hatte Kafka frühestens im Winter 1922/23. Vorher sah er noch sehr jugendlich aus, auf den Fotos von 1921 könnte man ihn sogar für 10 Jahre jünger halten, als er tatsächlich war. Und drittens: Eine Soirée bei Kafka, das ist unvorstellbar. K. hat nie irgendwelche Gesellschaften gegeben. Wo auch, er hatte ja nie eine eigene Wohnung. An Milena Jesenská schreibt K. 1920, dass er Gross nur einmal getroffen hat, nämlich bei der berühmten Zugfahrt 1917 nach Prag und dann an einem der folgenden Abende bei Brod, zusammen mit Werfel. (Mail vom 22. Februar 2008).