Zusammenfassung

Otto Gross schreibt an Frieda Weekley, dankt ihr, das sie existiert und beschreibt sie als das von ihm "vorausgeträumte Weib der Zukunft", als einzigen Menschen, der "frei geblieben ist von Keuschheitsmoral und Christentum und Democratie".

Er berichtet Frieda, daß ihn Else (Jaffé, Frieda Weekley's Schwester, mit der er auch eine Liebesbeziehung hat) besucht hat. Er habe sie neu lieben gelernt. Sie sei "meilenfern von aller Möglichkeit des Neides" (gegenüber Frieda Weekley und deren Beziehung zu Otto Gross), muß aber "wohl erst lernen, sich [für Otto Gross und Frieda Weekley, die nun auch ein Paar sind] mitzufreuen".

Gross schreibt, daß er den Talisman sehr brauche, den ihm Frieda bei ihrem Treffen geschenkt habe.

Er vergleicht sich mit Moses, der der Bibel zufolge selbst - weil er Knecht in Ägypten war - nicht ins gelobte Land gedurft habe. Erst eine neue Generation werde eine "selbstverständliche Adelsherrschaft der freien Schönheit errichten".


Otto Gross an Frieda Weekley


1. I 
Meine Geliebte,
ich danke Dir, dass Du existierst
- dass ich wissen darf um Dich -
ich danke Dir für allen Muth,
alle Hoffnung, alle Kraft, die mir
von Dir zugekommen ist. Erst jetzt
vermag ich allmählich ganz zu be-
greifen, welch Neubelebung aller
Kräfte mir durch Dich zugegangen
ist - durch Dich, die du mir farbig
und lebend
gezeigt und geschenkt
hast, was mir als körperloser
Traum, als Zukunftssehnsucht
des Strebens und Wollens - als das
vorausgeträumte Weib der Zukunft
in meiner Phantasie lebendig war.
Nun hab ich

die Bestätigung voraus bekommen
- lebend gesehen, lebend geliebt,
was mir als höchste Möglichkeit
der Zukunft gegolten hatte -
als Möglichkeit, als Werk meiner
Phantasie, an dessen Ungewissheit
bisher [1] sich meine lähmendsten Zweifel
an aller Menschheitszukunft
und meinem eigenen Streben
immer von neuem wieder festgesetzt
hatten. Jetzt aber haben sie keinen
Angriffspunkt mehr
- jetzt weiss
ich, das Weib, dass ich für kom-
mende Geschlechter träume, das
hab ich gesehen und geliebt, das
Weib meiner Zukunfts-

2. 
träume ist wirklich möglich,
es kann existieren - es ist wie
ein Wunder als Gruss
der Zukunft zu mir gekommen ...
Ich weiss jetzt, wie die
Menschen sein werden, die
nicht mehr befleckt sein
werden von allen Dingen, die
ich hasse und bekämpfe - ich
weiss es durch Dich, den einzigen
Menschen, der heute schon frei
geblieben ist von Keuschheitsmoral
und Christenthum und Democratie
und alledem gehäuften Unrat -
freigeblieben durch seine
eigene Kraft - - -

Wie hast Du nur dieses Wunder
zustande gebracht, Du goldenes
Kind - mit Deinem Lachen und
Deinem Lieben den Fluch und Schmutz
von zwei verdüsterten Jahrtausenden
von Deiner Seele fernzuhalten ?
Weisst Du denn auch, Geliebte,
was Du mir Grosses gegeben hast -
weisst Du, welch unvergleichliche Kraft
Du mir geschenkt hast in diesen Tagen,
als ich mein Zukunftsideal
als lebende Wirklichkeit schauen
durfte und alles sich [2] noch viel schöner
erwies als ich mir je geträumt -
weisst Du, wie Du mich stark und
froh gemacht - dass Du

3.
mich auch das Lachen gelehrt
hast - dass mir seit Deinen
Tagen die grosse Sicherheit geblieben
ist, wie ich sie bisher noch
nie gekannt ?
Ich danke Dir, Geliebte - -
auf Wiedersehen !
Dein Otto

4. (später)
Nun ist Else gekommen [3] - in
Schönheit ....
(hier bin ich überm Schreiben ein-
geschlafen. Das weitere ein paar
Tage später. -)
Jetzt bin ich mit Else - Tiefen
der Liebe, Tiefen der Schwermuth -
ich habe sie lieben gelernt wie
noch niemals vorher - und wie
noch niemals ihre Schwere begriffen
- sie ist so gross und vornehm
und hat Dich so warm und inner-
lich lieb - so meilenfern von aller
Möglichkeit des Neides - und leidet
doch - was ist denn zu leiden

an solch einem sonnigen Glück
von zwei Menschen, die man
lieb hat ? Ich kann es nicht
verstehen - - - Das heißt, ich kann die
Else verstehn aus ihrem Leben,
aus all dem Traurigen, Sonnen-
losen in ihr und um sie herum
- sie hat sich immer in ihrem
ganzen Leben dem Unterdrückten,
Lichtberaubten zugewendet -
"Socialaskese" haben wir gesagt ! -
sie hat sich lange Jahre im Mitleid
ausgelebt - sie muss es wohl
erst lernen, sich mitzufreuen.
Sie weiss wohl noch fast nichts
davon, dass doch das wirklich
Beste nur auf den Höhen und in der Sonne gedeiht ...

5.
Geliebte, das ist jetzt eine
solche Zeit, in der ich den Talisman
brauche, den Du mir gegeben hast -
in der ich Kraft und Selbstvertrauen
wiederfinden muss im Wissen darum,
dass sich in Dir, Geliebte, mein
Zukunftstraum bereits erfüllt, mein
ethisches Ideal als Wirklichkeit bestätigt
hat
- - - - Du, weisst Du noch aus der
Bibel : es durfte doch keiner in's gelobte
Land hinein, der noch in Aegypten -
als Knecht - gewesen war, erst als Die
alle in der Wüste gestorben waren und
eine neue Generation geboren war - geboren
in der Wüste, auf der Irrfahrt, im Elend
aber in der Freiheit - erst diese neue

Generation kam in's gelobte Land
- zum Sieg, zur Herrschaft - - - -
Das ist ein herrliches Symbol : zur
herrschenden Freiheit, zum Adel
der schönen und selbstverständlichen
Sicherheit - dazu ist keiner berufen,
der noch die alten Fesseln getragen hat
- auch Moses, auch der Befreier
selber nicht - . Nur wer in der
Freiheit der Irrfahrt geboren ist -
die Suchenden, denen die Freiheit als
Opfer, als strenges Gelöbnis vertraut
geworden ist - die jede Noth und Gefahr
des Suchens, des irrenden Strebens, des
täglichen Kampfes - die alles Elend
aber nicht die Gewohnheit der Fesseln
kennen
erst diese neue Generation
wird eine Herrschaft, eine sichere selbst-
verständliche Adelsherrschaft der
freien Schönheit errichten ....

6.
Leb wohl, Geliebte. Hab Dank - - -
Ich schreibe Dir bald, sehr bald
noch mehr - schicke Dir auch,
was ich versprochen habe - - - - -
Und Du, Du schreib' mir bald
von Dir und Deinem Leben
, schreib
mir genau, wie sich's bei Dir zuhause
getroffen hat und ob es Dir gelingen
will, Dein goldenes Glück zu säen -
Dein goldenes Glück sich spiegeln
zu lassen in Allen, die Dich lieben -
und dann : Auf Wiedersehen ! Behalt' mich
ein wenig lieb, ich werde Dich immer,
immer so dankbar, so freudig lieben - - -


1) Das vorstehende Wort wurde von O. G. nachträglich in den Text eingefügt
2) Das vorstehende Wort wurde von O. G. nachträglich in den Text eingefügt
3) Else Jaffé, die Schwester Frieda Weekley's, unterhielt in der Konradstr. 16 in München, nur wenige Straßen von der Türkenstr. 81/II, in der Gross wohnte, eine Wohnung, vgl. auch: Festner, Katharina u. Christiane Raabe. Spaziergänge durch das München berühmter Frauen. Zürich, Hamburg: Arche 1996, S. 126f.