ZEITTAFEL 1917 - 1919
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Berlin, Februar 1920
"Was ist die deutsche Regierung als ein Haufen Schmutz an den Rockschößen der Ludendorff und Lüttwitz." Diese Passage im Aufruf "An die Proletarier aller Länder" in Nr. 15 der kommunistischen "Roten Fahne" vom 10. Februar 1920 lieferte die Begründung für das zeitweilige Verbot der Zeitung. Bis zum 25. Februar durfte sie, so meldete das "Berliner Tageblatt" am Mittwoch, dem 11. Februar, nicht erscheinen.
Die rein klimatischen Verhältnisse im Berlin dieser Tage waren hingegen milder als erwartet: Drei Grad über dem Gefrierpunkt schon am 10. Februar. Die "Vossische Zeitung" erläuterte in ihrer Ausgabe vom 11. Februar, daß der nur mäßige Frost u.a. darauf zurückzuführen sei, daß ein Hoch aus dem Südwesten heraufziehe, daß im Rheingebiet auch schon frühlingshafte Wärme von bis zu 14 Grad gebracht habe. Allerdings habe die Deutsche Seewarte wegen stark auffrischender südwestlicher Winde für Nord- und Ostsee Sturmwarnung ausgelöst. Fernab der Küste in Berlin wird der österreichische Arzt Dr. Otto Gross in diesen Tagen krank und hilflos aufgefunden.
In der Hauptstadt grassiert die Grippe: am 12. Februar waren 597 Neuerkrankungen zu verzeichnen, am nächsten Tag 646 und am 14. Februar 399. Besonders hart war nach Angaben der "Vossischen Zeitung" die Post betroffen: bis zu 27 Prozent der Bediensteten waren dort erkrankt, in den Waren- und Kaufhäusern in der Leipziger Straße durchschnittlich 10 Prozent der weiblichen Angestellten. Der Kampf gegen die Seuche werde besonders durch den Kohlenmangel erschwert, heißt es in dem Zeitungsbericht weiter.
Das Feuilleton der Zeitungen beschäftigen andere Themen: Von Johanna Hofer, die in der "Tribüne" die Titelrolle von Wedekinds "Franziska" spielt, schreibt Alfred Kerr im "Berliner Tageblatt" vom 12. Februar, dass sie ebenso wenig wie ihre Vorgängerin in der Rolle "ein faustisches Triebgeschöpf" sei.
Otto Gross ist inzwischen in ein Sanatorium in Pankow eingeliefert worden und dem Tode nah.
Am Freitag, dem 13. Februar 1920 um 5 Uhr früh, stirbt er in der Scholinus'schen Privat-, Heil- und Pflegeanstalt (1). Der Oberpfleger Hugo Mätschke zeigt seinen Tod am gleichen Tag beim zuständigen Standesamt in Pankow an. In der Sterbeurkunde heißt es, Gross sei 42 Jahre alt und mosaischer Religion (2). Am gleichen Tag kündigt der Verlag "Die Erde" das Erscheinen von Franz Jung's "Gott verschläft die Zeit" an.
In den großen Berliner Zeitungen findet sein Tod keine Erwähnung. In den Lokalnachrichten berichtet das "Berliner Tageblatt" am 16. Februar vielmehr vom Mord an Hans Wendelstadt. Die Leiche des 50jährigen Kaufmanns habe, als man sie fand, fünf Dolchstiche in Hals und Brust aufgewiesen. Tage später wird der 25jährige Sohn des Toten, gleichfalls Kaufmann, auf Anordnung der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts des Vatermordes in Haft genommen.
Anton Kuh's Einstand in Berlin, der am 20. Februar in der Sezession über "Sexuelle Revolution" spricht, wird von den Berichterstattern nicht mit Otto Gross, sondern mit einem anderen Analytiker in Verbindung gebracht: "Wenn er sich auch dagegen verwahrte, den geistigen Nachfahren des heißumstrittenen Wiener Psychoanalytikers Freud zugerechnet zu werden, so wurzeln doch seine Forderungen tief in der Schale des bekannten Gelehrten. Jeder Mensch, ob Mann oder Weib, soll den Mut haben, sich sexuell zu bekennen, und besonders die Frau müsse dazu gelangen, das politisch-soziale Männerjoch abzuschütteln, weil jegliche Erscheinung auf meistens unbewußte, verdrängte Sexualität zurückzuführen sei (sogar der vielgeschmähte preußische Militarismus!)."
Otto Gross wird nicht der einzige prominente Tote des Frühjahres 1920 bleiben: Am 26. Februar stirbt Ludwig Rubiner an einer Lungenentzündung. Für andere geht das Leben weiter: im "Marmorhaus", so eine Anzeige in der "Vossischen Zeitung" vom 29. Februar, wird - fast eine Reminiszenz an Otto Gross - "Das Kabinett des Dr. Caligari" aufgeführt.
Der Stern ist explodiert - lautlos
Jung selbst verschläft wenig: am 20. April wird er Mitbegründer der KAPD und kann als Delegierter nach Moskau reisen. Der Transfer verläuft spektakulär: am darauffolgenden Tag entführt er zusammen mit Jan Appel und Hermann Knüfken in Cuxhaven den Fischdampfer "Senator Schröder" und geht damit am 1. Mai in Murmansk vor Anker, am 24. Mai kehrt das Schiff - jetzt ohne Jung - nach Cuxhaven zurück.
Schon am 14. Mai hatten sich in Deutschland auch andere auf eine aufsehenerregende Reise begeben: Von der Stadt Hartenstein im Erzgebirge bricht eine Gruppe junger Leute unter Führung von Friedrich Muck-Lamberty zu einem Zug durch Franken und Thüringen auf. Zweck der Wanderung: Sammlung aller jungen Menschen und Kampf für die Volksgemeinschaft gegen alles Gemeine, gegen Ausbeutung.
Am 14. Juni stirbt Max Weber in München, 14 Tage später telegrafiert Franz Jung aus Oslo, er komme nicht vor dem 1. Juli nach Deutschland zurück.
Milena Jesenská und Franz Kafka müssen sich über den Tod von Otto Gross ausgetauscht haben, denn Kafka schreibt ihr am 25. Juni: "Otto Gross habe ich kaum gekannt; daß hier aber etwas Wesentliches war das wenigstens die Hand ausstreckte, habe ich gemerkt."
Frieda Gross wird am 11. Juli in Lugano ihr viertes Kind bekommen, sie und der Kindsvater Ernst Frick geben dem Mädchen den Namen Ruth Elisabeth und rufen sie später "Bülo".
Franz Jung muß büßen: am 26. September wird er wegen Schiffsraubs verhaftet und anschließend in Untersuchungsgefängnissen in Cuxhaven, Hamburg und Fuhlsbüttel gefangengehalten.
In der Psychoanalytikerszene lebt Otto Gross weiter. Vielleicht durch Wilhelm Stekels Nachruf auf Gross in "Psyche and Eros" (3) aufmerksam geworden, korrespondieren zwei aus Sigmund Freud's "Komitee" über die verlorene Seele. Ernest Jones schreibt am 2. November an Otto Rank: "Dear Otto, Is it certain that O. Gross is dead this time? Will you please send me his last book 'Drei Aufsätze uber [sic!] den inneren Konflikt.' (Marcus & Weber, Bonn, 1920); perhaps you can get a review copy." So wird das posthum erschienene Werk einen weiteren Leser, vielleicht auch einen Käufer, gefunden haben. Wir wissen nicht, ob Rank für Jones ein Rezensionsexemplar angefordert hat.
Anhaltspunkte für die näheren Umstände des Todes von Otto Gross liefert Emil Szittya erstmals 1923. In seiner Schrift "Das Kuriositäten-Kabinett" schreibt er über Gross:
"Er sagte: ' ... jeder freiheitliche Mensch müsse Narkotika nehmen, weil Cokain und Morphium die Hemmungen lösten. Man müsse sich sexuell austoben' - aber das Leben das er wünschte und predigte, hat ihn selbst vernichtet, bis er dann fast vor Hunger in einem Spital starb. Nach seinem Tode waren die Menschen plötzlich wieder begeistert von ihm. Man fertigte eine Totenmaske von ihm. Ein reicher Fabrikant Staub ließ ein hübsches Begräbnis veranstalten. In allen Zeitungen schrieb man über ihn." (4)
Als schriftliches Zeugnis eines Freundes von Gross steht das von Franz Jung zur Verfügung, der allerdings in seinem 1961 veröffentlichten "Weg nach unten" den Tod von Gross in die Zeit der ersten Monate nach dem 1. Weltkrieg verlegt:
"Für mich bedeutete Otto Groß das Erlebnis einer ersten und tiefen, großen Freundschaft, ich hätte mich ohne zu zögern für ihn aufgeopfert. Dabei stand ich ihm wahrscheinlich äußerlich, genau gesagt, nicht einmal besonders nahe. Es war eine Mischung von Respekt und Glaube, das Bedürfnis zu glauben und zu verehren, aufzunehmen und zu verarbeiten, was er uns ständig einhämmerte. Für Groß selbst war ich vielleicht nicht viel mehr als eine Figur auf dem Schachbrett seiner Gedankenkombinationen, die hin- und hergeschoben werden konnte. Zudem war es an sich schon schwierig, den Gedankengängen zu folgen, besonders in der Form persönlichen Zusammenseins; sie waren überschattet von den äußeren Unzuträglichkeiten, die mit der Abhängigkeit von Opium und Kokain verbunden sind. Es gehörte Phantasie dazu, zu Groß zu stehen. Später ist nicht ohne Bitternis ein Schuldgefühl zurückgeblieben, die Erkenntnis, daß es unmöglich geworden war, ihm zu helfen.
Otto Groß ist in den ersten Monaten der Unruhen nach dem ersten Weltkrieg auf der Straße buchstäblich verhungert. Die Freunde können einmal und vielleicht noch ein andermal mit dem Revolver in der Hand Apotheken in der Nacht überfallen und Opium herausholen, aber das kann nicht zur Regel werden. Groß fühlte sich im Stich gelassen, hatte auch keine Kraft mehr, jemanden aufzusuchen und dort wieder für eine Nacht unterzukriechen. Er hatte sich eines Nachts in einen sonst unbewachten Durchgang zu einem Lagerhaus geschleppt und ist dort liegengeblieben. Er wurde zwei Tage später aufgefunden. Eine Lungenentzündung, verschärft durch völlig Unterernährung, konnte nicht mehr behandelt werden. Er ist den Tag darauf gestorben. [Hervorhebungen von mir, R.D.] Der Stern eines großen Kämpfers gegen die Gesellschaftsordnung - der Stern ist explodiert, erloschen und untergegangen; die Zeit war nicht reif, das Gesindel der Satten noch zu zahlreich. Vorläufig ist der einzelne noch machtlos gegen sein Verhängnis." (5)
1974 erschien Martin Green's Buch "Else und Frieda - die Richthofen-Schwestern", für das der Autor vor Ort in Deutschland recherchiert hatte. Sein Ermittlungsergebnis zu den Todesumständen von Gross ist im Buch eher eine Randnotiz:
"1926 bezeichnete Hans Gruhle Groß' Kriminalpsychologie als ein übles Stück Populärwissenschaft. (Gruhle, ein Freund von Weber und Else Jaffé in Heidelberg, gehörte zu den Leuten, die den verhungernden, ja sterbenden Otto Groß in Berlin in einem Durchgang zu einem Lagerhaus fanden.)" [Hervorhebungen von mir, R.D.] (6)
Hans Walter Gruhle, der 1950 starb, hat Otto Gross tatsächlich kurz vor seinem Tode aufgefunden, wie Gruhles Sohn, Prof. Dr. Wolfgang Gruhle, Bergisch-Gladbach, bestätigt. Er schreibt 2004:
"An die Erzählung meines Vaters, dass er den hilflos-kranken Otto Gross fand, kann ich mich noch erinnern. Anlaß war bei einem Umzug (in den 30er Jahren) das Aufstellen der Bücher, dabei auch die 1 Meter lange Reihe der Bände des Gross-Archivs [gemeint ist vermutlich das "Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik" (1898-1916), das von Hans Gross herausgegeben wurde. Anm. R.D.], hoch oben auf dem Bücherregal." (7)
Freilich läßt sich heute nicht mehr ermitteln, wer sonst noch zu den "Leuten" gehörte, die Gross fanden. Es liegt allerdings nahe anzunehmen, dass Gruhle auch zu denjenigen gehörte, die Gross in eine Klinik brachten. Ob die Scholinus'schen Privat-, Heil- und Pflegeanstalten die nächstliegende war, oder andere Motive der Grund für die Einlieferung eben dorthin waren, muß gleichfalls vorerst offen bleiben.
1979 greift auch Emanuel Hurwitz in seinem Buch "Otto Gross - Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung" die Frage nach den näheren Umstände des Todes von Otto Gross wieder auf. Er schreibt:
"13. 2. 1920: Otto Gross wird zwei Tage zuvor halb verhungert und frierend in einem Durchgang zu einem Berliner Lagerhaus von Freunden aufgefunden. Er hatte sie im Streit verlassen, nachdem sie sich geweigert hatten, ihm bei der Beschaffung von weiteren Drogen behilflich zu sein. Mit einer Lungenentzündung und möglichen Entzugserscheinungen wird er in ein Sanatorium in Pankow eingeliefert, wo er stirbt. Sozusagen aus Versehen wird er auf dem israelitischen Friedhof begraben." (8)
Die Klinik des Psychoanalytikers umfasst das ganze Leiden der Menschheit an sich selbst
Als weitere Chronistin hat Cläre Jung, die langjährige Gefährtin und Ehefrau von Franz Jung, 1987 zur Sache ausgesagt. In ihren Memoiren, "Paradiesvögel", schreibt sie, sich präziser als Franz Jung erinnernd:
"Im Oktober 1919 kam Dr. Otto Groß nach Berlin. Ich freute mich sehr, denn ich setzte große Hoffnung auf ihn. Alle unsere Freunde, die Groß kannten, hatten mir unendlich viel von ihm erzählt und schätzten ihn sehr. Aber der Groß, den ich nun kennen lernte, war ein kranker Mann. Zerstört durch Narkotika und geschwächt durch Anstrengungen, waren seine Kräfte verbraucht, er selbst deprimiert. Jung und ich versuchten, ihm zu helfen. Aber er setzte dem die größten Widerstände entgegen. Es kam vor, daß er Geld und Sachen, die man ihm gab, wieder verlor. Zu einer wirklichen Zusammenarbeit konnte es nicht kommen, da er häufig gar nicht aufnahmefähig war. Wir hatten gerade auf ihn sehr gesetzt, nachdem in der Wiener Zeitschrift 'Sowjet' sein Artikel 'Orientierung der Geistigen' erschienen war.
In den letzten Monaten seines Lebens versuchte Otto Groß festzuhalten, was ihm von seinem Werk wichtig schien. In einer Reihe von Artikeln, die in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind, versuchte er, Anschluß an die revolutionäre Bewegung zu finden. Waren seine ersten Veröffentlichungen noch rein medizinisch-therapeutischer Natur, kämpfte er zu Beginn um Anerkennung von fachlicher Seite, so zeigte sich bald seine schöpferische Auslegung der Psychoanalyse. Den Unterschied hat einer der bekannten Freudschüler, Marcinowski, sehr schüchtern und vorsichtig etwa so formuliert: die Psychoanalytiker seien berufen, denen, die ihre Hilfe suchen, befreiende Weltanschauung finden zu helfen. Das war die Wegscheide. Von diesem Gedanken aus ist die Stellung von Groß in der psychoanalytischen Forschung zu betrachten.
'Die Klinik des Psychoanalytikers umfaßt das ganze Leiden der Menschheit an sich selbst.' Diesen Satz schrieb Otto Groß in einer seiner ersten Veröffentlichungen. Er ahnte noch nicht, daß er damit den entscheidenden Trennungsstrich zwischen sich und der Wiener Schule gezogen, ja, daß er überhaupt eine grundsätzlich andere Behandlung des Problems menschlichen Leids vorgeschlagen hatte. Die berufsmäßige Psychotherapie beschäftigt sich mit der Neurose, den Krankheitsbildern und weicht einem allgemeinen Zusammenhang aus. Groß hat den Weg der Heiltechnik verlassen und etwas anderes an seine Stelle gesetzt. Mag man es eingrenzend Ethik nennen. Groß strebte darüber hinaus. Den Bedingungen der Ethik mußte eine Gesetzmäßigkeit zugrunde liegen. Diese Gesetzmäßigkeit mußte eine Brücke bilden von der Menschheit als Summe aller Menschen zum Einzelmenschen und umgekehrt des einen zu allen. Dann erweitere sich das Leben des einen zu dem der Gesellschaft, zum Erleben der Gesellschaft, zum Erleben der Wechselbeziehung des einen und aller. Dahin treibt die Analyse der Bewußtwerdung vor. Sie schafft neue Ordnungen, neue Gesetze, neue Religionen. Sie ordnet die Gesellschaft um, indem sie die noch in Geltung befindlichen Konventionen auflöst und das Erleben freilegt. Und ihr Ziel wird, die Menschen enger und glückfähiger miteinander zu verbinden.
Franz Jung unternahm den Versuch, in einem Buch die Lehre von Dr. Otto Groß darzustellen. Dieses Werk sollte 1921 im Verlag Erich Reiss, Berlin, ergänzt durch Aufsätze von Groß, herauskommen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, aus welchen Gründen das Erscheinen des Buches unterblieben ist. Ich weiß nur, daß Verhandlungen darüber im Gange waren, die auch zu einem erfolgreichen Abschluß geführt hatten. Das Manuskript stellt Leben und Meinungen des Dr. Groß vor. Einige Kapitelüberschriften lauteten: 'Leid', 'Einsamkeit', 'Kind und Familie', 'Gegen den Staat', 'Gegen den Wert', 'Gegen den Besitz', 'Für Kameradschaft', 'Für Glück', 'Für Genialität', 'Die Arbeit'.
Otto Groß war zweifellos schon in dem Gefühl seines nahenden Endes nach Berlin gekommen. Er versuchte noch in seinen letzten Wochen niederzulegen, was er gewollt hatte. Aber seine Kraft reichte nicht mehr aus. Er versuchte, mir seine Arbeiten zu diktieren. Aber seine Gedankengänge wiederholten sich, die Sätze wurden unverständlich, und je länger die Arbeit dauerte, desto verworrener wurde alles. Soweit es in meinen Kräften stand, versuchte ich, ihn bei seinem Thema zu halten und Verständlichkeit seiner Arbeiten zu erreichen. Zuweilen folgte darauf ein Zusammenbruch, der in Selbstanklagen und Weinen endete. Es kam auch vor, daß Groß mitten in der Arbeit einschlief, wenn ihm seine Narkotika fehlten, von denen er völlig abhängig war und die ihn sehr quälten. Einmal sprach ich von den Hoffnungen, die ich an seine Zusammenarbeit mit uns geknüpft hatte, von der Freude, die ich empfunden hatte, als er zu uns kam, die glücklichen Erwartungen ...
Groß umarmte mich, glücklich, daß ein Mensch so an ihn glaubte. 'Das gibt mir wieder neuen Auftrieb', sagte er. Dann aber, mit dem Ausdruck der Verzweiflung: 'ich kämpfe nur noch um mein Leben.'
Kurze Zeit darauf erkrankte er. Ich glaube, es war nur eine kleine Grippe, die ihn infolge einer Erkältung befallen hatte. Einige gute Freunde versuchten, ihm zu helfen. Man brachte ihn in ein Krankenhaus. Er sollte ein paar Tage gute Pflege haben. Aber er war am Ende. [Hervorhebungen von mir, R.D.] Es war nicht allein die Grippe, die Erschöpfungen, nicht allein die Entziehung der Narkotika und die Schwierigkeit seiner Ernährung im Krankenhaus - Groß war strenger Vegetarier und nahm nicht einmal Suppen aus Bouillonwürfeln zu sich - er wußte nicht mehr weiter. So starb er nach wenigen Tagen seines Krankenhausaufenthaltes im März 1920." (9)
Am Ende der Anfang
Fast euphorisch ist Gross also im Oktober 1919 in Berlin erwartet worden - und es kam ein kranker, deprimierter Mann, dessen Tage gezählt waren. Die Versuche, ihm zu helfen, schlagen fehl, seine Veröffentlichungen werden nichtsdestotrotz zur theoretischen Basis der revolutionären Kreise um Franz Jung und Johannes R. Becher (der noch im März 1920 Karl Raichle in Urach mit den Worten begrüßt: "Du Karl, Du kannst froh sein, daß Rilla mich geschickt hat und nicht den Dr. [Otto] Groß, denn das war ein ganz schlimmer Bolschewist!"). (10)
Resümieren wir das oben Berichtete, so verdichtet sich der lebensbedrohliche Zustand, in dem sich Gross befand, zur Gewißheit: auch er wird von der tückischen Grippewelle erfaßt, eine Lungenentzündung kommt hinzu und beides führt bei dem jahrelang drogenabhängigen, unterernährten Mann zum schnellen Tod.
Cläre Jung spricht aber auch von der psychischen Realität von Gross. Er war "deprimiert", "häufig gar nicht aufnahmefähig", von einem "Zusammenbruch, der in Selbstanklagen und Weinen endete" ist die Rede. "... seine Gedankengänge wiederholten sich, die Sätze wurden unverständlich, und je länger die Arbeit dauerte, desto verworrener wurde alles". Die Veröffentlichungen von Gross sprechen allerdings eine klare Sprache, sind nicht "verworren" und "unverständlich". Ihre Verständlichkeit haben wir - wie wir jetzt wissen - Cläre Jung zu verdanken. Sie hat das von Gross Diktierte wie dessen eigene Aufzeichnungen lange Jahre aufbewahrt und auch Besuchern gezeigt - die in der Regel mit dem unveröffentlichten Teil nichts anfangen konnten. Sie sprechen für sich:
"Dass ich so unsicher bin über / mein Unbewußtes und so un- / lautere Möglichkeiten im Unbewuss- / ten sind - das kommt wie Alles, / Alles böse / aus der Schwäche - / aus der tiefen, umfassenden / Feigheit, die ein Leben beherrschen / muss, dem jede Aussicht auf rei- / nen Sieg versagt ist jede / Zuversicht jede Expansivität, jede / Sicherheit andern gegenüber - / jedes Selbstvertrauen - - jedes Selbstvertrauen im andern / Sinn als in der Perspective von Bücher schreiben. [...]
Die Bücher sind die richtige / Selbstironie - Ironie auf den / Vater und vor allem auf mich. [...]
Die wissenschaftliche Selbstachtung / ist ein Hohn auf die wirkliche / gerade ich bin doch so aufrichtig / überzeugt davon, das / "Ehre", "Achtung", "Selbstvertrauen" / "Zufriedenheit" mit sich selbst / Selbstachtung überhaupt - / und allein und immer / nur das Dreinschlagenkönnen / bedeutet...... Nicht dreinschlagenkönnen / heißt mit der Nase in den / Dreck gesteckt werden - / heißt "Schmutzig sein" - / heißt vor allem das / Entehrtsein - / Nicht dreinschlagen können / heißt nicht neidlos sein können / nicht ehrlich und restlos - ver- / gönnen - vertrauen - lieben - / Freund sein können - heißt / eben auch innerlich / nicht rein sein können. [...]
ich selbst glaube das alles, alles / was ich tue und nicht tue, / masquierte Schwäche ist - / Feigheit ist - "saurere Trauben" / und die Schweinerei die dazu- / gehört.
Die Unbekümmertheit der / Selbstsicheren - wer die nicht / hat, der muss dann immer / und immer sich kontrol- / lieren - und alle anderen / ob sie nicht schon bemerken - / und nicht schon bemerken / das ich doch nichts dagegen / tun könnte - wenn ich auch / wollte - also nicht mehr / wollen kann - nicht mehr / wollen darf. [...]
Das ich nicht meine Selbst- / schätzung habe und meinen / automatischen Glauben an / mich - und endlich gut / und treu sein könnte - - [...]
Von Suggestionen hat mein Vater erzählt, / - zweimal! - von Suggestionen bei / Krankheiten - es ist auch ganz in seinem / Sinn - ich glaube er würde so / fühlen ... Eine Geschichte noch, daß er von einem / Hund gebissen war und Angst hatte / wüthend zu werden! (Ist mir jetzt sehr / unheimlich!) / Das ist auch ganz unmöglich, / so etwas zu glauben - es sei mir / aber doch ganz recht, dass er mir's / doch versichert habe. - ./.
Die andere Geschichte war von Zahnweh, / oder Kopfweh - das hatte ich vorgestern / auch
Der ganze Traum - sehr klar, stark / affektiv, wie gelebt, aber irgendwie / ausser Zusammenhang mit der Rea- / lität - ich wollte eben schrei- / ben "sonstigen Realität"! - / Am Morgen innerlich angeregt, / angstvoll, dann Erinnerung an den / Traum - - -
Assoc. z. Traum
Staatsanwalt - Der Staatsanwalt / in Czernowitz und sein Duell - / er schien mir als ein Beispiel / für die gewisse Vereinigung der Extre- / me - - / Das Todliegen - Phantasie als / Kind - Liegen im Wald - im Bach / - in der Schlucht / hinrichten - Köpfen. / Capo Capos' Istria / capitano - - - - - (?) / Schriftzeichen - als Kind ersinnen / wollen, nicht können Clavier- / spielen der Mutter -- / französisch / roman. Sprache / Phallus paternus!
(Fiume)
Traum=
Bock - dass er in die Gegend stosst - / mit der Mutter gesehen - / Corridor - Wunschmotive - - / Exhibition - / und Schwindel und Angst - / Vater Krankheit Erwartung -
Dass es mich jetzt so beschäftigt ob / man sich über mich aufhält? etc - / ist das Besserung oder auch Komplex - / N. 7 ??? / Was ich mir denke was die Leute haben? / Dreckige Photen etc. hab ich - ist es das?
Was heisst das: ich will hingerichtet / werden? heisst das er soll zu mir kom- / men was im Nebenzimmer ist?? / chargé de charge / ferrer ---
Geschwister und Enkel / Das Aspirieren von den Händen / - das Todesgefühl / Das war beim Peppelemachen - die / Peppele / Einen Spalt in ein Stück Fleisch zu / hauen - "Fleischhauen" - und mein / Hass als Kind gegen Fleischhauen / Am Schlossberg - und hinein / gegriffen - und daß es "von Men- / schen" war - warum gar so viel Entsetzen?
Die Venus die den Amor bei den Flügeln / hält - / und die Sentimentalität von Alten - / und ob sich ein Sadismus gegen Kinder / nicht gegen ihn richtet??" (11)
Es sind seine traumatischen Kindheitserinnerungen, die Otto Gross am Ende seines Lebens gänzlich überwältigen. Zwar waren sie auch Triebkraft für seine wissenschaftlichen Erkenntnisse, doch nur mithilfe der Drogen war er imstande, bis hierhin zu überleben. Die schützen ihn nun längst nicht mehr, die Sucht hat ihn vollständig im Griff.
Seine wissenschaftliche Arbeit erscheint ihm als "richtige Selbstironie". Er muss erkennen, dass er die erlebten Traumata nicht bewältigen konnte. Das, was viele seiner Patientinnen intuitiv als emphatische Nähe eines Leidensgenossen empfanden und zu ihm als Therapeuten Vertrauen haben läßt, ist ihm zeitlebens auch Bedrohung, Angst vor Entdeckung gewesen.
Die gestörte Beziehung der Eltern zum Sohn, die durch sie erfahrene, elementare Grenzverletzung, erlebt er als immanente Belastung - und wendet sie gegen sich selbst: er selbst ist "mit der Nase im Dreck", "schmutzig" und "entehrt", will hingerichtet werden, weil ihn die Erinnerungen nicht loslassen. Da auch der Vater seine "Versicherungen" nicht eingehalten hat und er fürchtet, dass er dessen "Sadismus" in sich trägt, kann er selbst nicht "gut und treu" sein, weder als Partner noch selbst als Vater.
Mutmaßungen und Fakten
Gross' Leben folgt einer Idee: "Die Klinik des Psychoanalytikers umfaßt das ganz Leiden der Menschheit an sich selbst." Die eigene Erfahrung wird von ihm - wissenschaftlich fundiert - zur Befreiungstheorie erhoben. In dieser Theorie spielt er selbst - als Angehöriger des von ihm selbst kreierten Typus' mit verengt-vertieftem Bewußtsein, der natürlichen Aristokratie der Gesellschaft - die Rolle des Heilsbringers. In Analogie zu Mose ist es ihm, der den Makel der alten Gesellschaft in sich trägt, versagt, das gelobte Land zu betreten, er darf es nur schauen. Allerdings lassen sich Elemente der zukünftigen Gesellschaft im Kreise Gleichgesinnter (oder richtiger: Gleichgearteter) einüben, vorwegnehmen. Theoretisch begründet heißt das: "Glück ist, (...), im Bewußtsein des Einzelnen die rhythmische Gemeinsamkeit im Erleben der Gemeinschaft, ein fortgesetzt pulsierendes Erleben, das, vom Bewußtsein in den Zustand und in das Sein verankert, Ruhe und Sicherheit ausdrücken würde." (12)
Erlebt Otto Gross Glück in der Gemeinschaft, Ruhe und Sicherheit? Wohl eher nicht, wie seine Aufzeichnungen am Lebensende belegen. Zwar hat Gross die Kriegszeit überstanden, aber nicht schadlos: viele seiner Gefährten, die noch im Bewußtsein, ihnen stünden eher nach erprobten Mannbarkeitsritualen verlaufende Auseinandersetzungen bevor, ins Feld zogen, sind im Felde getötet oder schwer verwundet worden, Giftgas und Bombardements, Legionen von Toten haben den Überlebenden auch schwere psychische Wunden zugefügt. Gross, der hoffte, dass der Krieg mit der Zertrümmerung der Vatergesellschaft (und der K.u.k.-Monarchie) enden und die Chance für freie mutterrechtliche Strukturen schaffen würde, erlebt zwar die Geburt der Sowjetunion, die gesellschaftlichen Verhältnisse im eigenen Umfeld aber unverändert, ja restaurativ: die Spießer kehren von der Front zurück, die Revolutionäre differenzieren sich in die Masse der Staatstragenden und eine Minderheit von Anhängern der permanenten Revolution. Rastlos eilt er von einer revolutionären Feuerstelle zur anderen, ist in Wien und in München und versucht, die Räterevolutionäre von seiner Idee einer neuen Erziehung, von kollektiver Fürsorge zu überzeugen - und findet nur selten Gehör.
Schon seit 1916 ist Gross fester Bestandteil im Biotop der Familie Kuh, zu deren Wiener Haushalt neben der Mutter Auguste der Sohn Anton und die Schwestern Margarethe, Marianne und Anna ("Nina") gehören, mit Marianne ("Mitzi") hat er ein gemeinsames Kind, die Tochter Sophie, die am 23. November geboren wird. Franz Jung spricht von Gross' Bemühen, ein bürgerliches Leben zu führen und in der Welt der medizinischen Wissenschaft wieder Fuß zu fassen, ein Übertritt zum Judentum und eine geplante Heirat sind im Gespräch. Die verbürgten Fakten zeigen zwar einen Otto Gross in Begleitung von Lebensgefährtin, gemeinsamem Kind und potentiellem Schwager bei einer Begegnung mit Kafka auf einer Zugreise nach Prag am 18. Juli 1917 (13), Kafkas Bericht schildert aber eher einen unter Drogeneinfluss Zeit und Umwelt vergessenden als einen fürsorglichen Familienvater. Gross' Besuch bei Kafka am 23. Juli (14) führt denn auch später nur zum Zerwürfnis zwischen Kafka und Werfel und nicht zur Herausgabe der gemeinsam geplanten "Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens".
In der Folgezeit lebt Gross mal in Wien, mal bei der Mutter in Graz, wo es am 19. Juni 1918 zu einer merkwürdigen Begegnung kommt: Nina Kuh, die der Schwester und Otto Gross nach Graz nachgereist war, sucht diesen für sich zu gewinnen, indem sie ihm Kokain offeriert. Es kommt zu einer peinlichen Szene zwischen den Schwestern. Dr. Hermann Zafita, der Betreuer des Kriminalmuseums von Hans Gross' und Kurator von Otto Gross, zeigt den Vorfall bei der Sicherheitsbehörde an und schätzt in seiner Vernehmung den Umgang mit Nina Kuh für Gross als "äußerst gefährlich" ein, da sie ihn "vollkommen in der Gewalt" habe und "sehr hysterisch" sei. Nina Kuh wird daraufhin kurzzeitig inhaftiert. Gegen ein nachhaltiges Zerwürfnis zwischen den Protagonisten spricht der von Nina Kuh zu Protokoll gegebene Wunsch, doch "Dr. Groß, seine Mutter oder meine bei ihnen wohnende Schwester Mitzi zu verständigen", die "alle entsetzt sein" werden, daß sie in Haft ist. "Es ist doch nichts geschehen." (15)
Gross selbst spielt in diesem Szenario eine passive Rolle, wirkt schwach und willenlos. Oder adaptiert Zafita nur die Rolle des fürsorglichen Vaters, der den nervenleidenden Sohn behütet - wie weiland vorgeblich Hans Gross? Die Personenbeschreibung von Gross, die er der Behörde gibt, scheint dies zu belegen: "... sehr vorgebeugte Körperhaltung, schwebenden, schiebenden Gang, starren Blick, glatt rasiert, bleich, eingefallen, durchfurchtes, sommersprossiges Gesicht, gebogene, gekrümmte Nase, ziemlich lange, gekrauste, blonde, melierte Haare" (16).
Es spricht vieles dafür, dass es in der Folgezeit zu einer Menage á troi kam, Anhaltspunkte dafür, dass Gross eine bürgerliche Existenz aufzubauen trachtet, finden sich nicht: vielmehr ist er am 2. November in Wien - und fordert bei einer Zusammenkunft "ziemlich weit draußen im siebenten Bezirk" für sich ein "Ministerium zur Liquidierung der bürgerlichen Familie und Sexualität" (17) -, ab März 1919 wieder in Graz bei der Mutter. Von welchem "Frl. Kuh" die Rede ist, dass Felix Noeggerath, den designierten Kultusminister der Revolutionäre, am 7. April 1919, auf dem Höhepunkt der baierischen Räterepublik, "in der Angelegenheit des Dr. Groß" (18) zu sprechen wünscht, wissen wir ebensowenig, wie ob aus der Verabredung etwas wurde. Erst im Oktober, mit seiner Ankunft in Berlin, läßt sich die Spur wieder aufnehmen. Ihm blieben fünf Monate um sein Vermächtnis zu formulieren, in einer Reihe von Zeitschriftenaufsätzen und einer Handvoll Blätter Papier als Zeugnis seiner inneren Qualen.
Ein Tod wie ein Leben - in vielem ein Rätsel und ein Signal zugleich.
Literaturangaben
1) Die Scholinus'sche Privat-, Heil- und Pflegeanstalt in Pankow, Breite Str. 18, wurde 1868 von Prof. Dr. med. Emanuel Mendel gegründet und 1895 von Sanitätsrat Dr. Gustav Scholinus erworben, der sie bis zu seinem Tode 1922 führte. Danach wurde der Anstaltsbetrieb eingestellt, das Wohnhaus auf dem Gelände allerdings weiter von der Witwe genutzt. In einem undatierten "Prospekt der Heilanstalt von Dr. Scholinus in Pankow bei Berlin" heißt es über die Anstalt, "daß sie [...] 8 Gebäude umfaßt, die für die Unterbringung von ungefähr 100 Kranken bestimmt sind. Die einzelnen Häuser dienen, den modernen psychiatrischen Anschauungen gemäß, zur Trennung der verschiedenen Kategorien von Kranken und sind von schattigen Gärten und Parkanlagen umgeben, die eine Gesamtfläche von 10 Morgen umfassen." Und weiter: "Die Anstalt gewährt Gemütskranken beiderlei Geschlechts mit Einschluß stärker verstimmter Neurastheniker und Hypochonder, ferner Morphinisten und Alkoholikern Aufnahme und sachgemäße Behandlung." Besagter Prospekt wurde mir freundlicherweise von Dr. Ralf Rother, Wien, in Kopie überlassen (Foto: Ledermann, Berlin: Pank Museum, Sig: fa000511; Folder: Ingrid Thümecke, Berlin. Der Folder besteht aus 3 Seiten Text und etwa 12 Abbildungen der Klinik: Innenräume, Park etc.). Er übermittelte mir außerdem eine Photographie der Klinik, die aus der Zeit um 1900 stammt.
Das Spezialgebiet von Gustav Scholinus, der in der Anstalt zwei Assistenzärzte beschäftigte, waren paranoide Erkrankungen. - Vgl. dazu: Scholinus, Gustav: Über primäre und secundäre Paranoia. 66 S. Greifswald, Med. Diss., 24. Mai 1890; Zugl.: Greifswald : Druck v. Julius Abel, 1890
Der Anstaltsoberwärter Hugo Mätschke (gest. 1932), der den Tod von Gross vom Standesamt Pankow anzeigte, war am Ort "sehr bekannt" und fand deshalb Erwähnung in der Pankower Ortschronik.
2) Ob Otto Gross zum Judentum konvertiert ist, kann bisher nicht belegt werden. Otto Gross wurde katholisch getauft. Die Angabe, er sei "mosaischen Glaubens" wirft in verschiedener Hinsicht Fragen auf: 1. Ist Gross tatsächlich zum Judentum übergetreten oder basiert die Angabe nur auf einer Vermutung Hugo Mätschkes?
Das Centrum Judaicum wies mich darauf hin, daß die Aussage, Gross sei "mosaischen Glaubens" nicht zwangsläufig bedeute, daß er Jude war, vielmehr sei das die zeitübliche Beschreibung für einen Menschen gewesen, von dem man annahm, daß er jüdisch ist.
Sollte Gross zum Zeitpunkt seines Todes noch engere Kontakte zur Familie Kuh gehabt haben, so würde dies die Möglichkeit eröffnet haben, ihn auf einem jüdischen Friedhof zu beerdigen. Diese Möglichkeit ist nicht ganz von der Hand zu weisen, wurde doch Auguste Kuh, die Mutter von Margarethe, Marianne, Anna und Anton Kuh, die 1934 starb, auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beigesetzt, ihr Sohn Anton Kuh war - wie oben gesehen - am 20. Februar 1920 in Berlin.
3) Stekel, Wilhelm: In memoriam (Otto Gross). In: Psyche and Eros. Vol. 1. 1920, S. 49
4) Szittya, Emil: Das Kuriositäten-Kabinett. Konstanz : See-Verl., 1923, S. 152; In den großen Berliner Zeitungen findet sich keine Notiz über den Tod von Gross, seine Beisetzung oder eine Trauerfeier. Geprüft wurden das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung vom 12. Februar bis zum Ende des Monats. In Berlin erschienen 1920 außerdem:
- Berliner Abendpost (1.IX.1887-31.XII.1921)
- Berliner Blatt (1.X.1897-30.XII.1933)
- Berliner Börsen-Zeitung (1.VII.1855-31.VIII.1944)
- Berliner Lokal-Anzeiger (4.XI.1883-31.VIII.1944)
- Berliner Montagspost (10.V.1920-28.XII.1942)
- Berliner Morgenpost (20.IX.1898-24.IV.1945) (26.IX.1952 ff.)
- Berliner Morgen-Zeitung (1.IV.1889-15.II.1939)
- Berliner Volksblatt / Vorwärts (1.IV.1884-28.II.1933)
- BZ am Mittag / BZ (22.X.1904-26.II.1943) (19.XI.1953ff)
- Das Deutsche Blatt / NA von: Berliner Neueste Nachrichten / Berliner Allgemeine Zeitung (1886-28.II.1943)
- Das Deutsche Tageblatt / Deutsche Nachrichten (1.V.1907-2.IX.1933)
- Deutsche Tageszeitung (1.IX.1894-30.IV.1934)
- Deutsche Warte (1.X.1890-31.XII.1922)
- Deutsche Zeitung (1.IV.1896-31.XII.1934)
- Deutschnationaler Volksfreund / Nationalpost (1919-30.VI.1934)
- Die Freiheit / Freiheit (15.XI.1918-30.IX.1922) (2.XII.1928-31.X.1931)
- Germania (1.I.1871-31.XII.1938)
- Katholische Volkszeitung / NA von: Germania, Berlin / Deutscher Volksfreund / NA von: Germania, Berlin (1.X.1891-31.VI.1921)
- Märkische Volks-Zeitung / NA von: Germania,Berlin (1.II.1889-31.III.1939)
- Der Montag / MoA von: Berliner Lokal-Anzeiger, Berlin (14.XI.1904-19.XII.1932)
- National-Zeitung / Nationalzeitung / NA für die Provinz ab 1913 von: 8 Uhr-Abendblatt, Berlin (1.IV.1848-30.IX.1938)
- Neue Preußische Zeitung / ["Kreuzzeitung"] / Neue Preußische Kreuz-Zeitung / Kreuz-Zeitung (30.VI.1848-31.I.1939)
- Norddeutsches Wochenblatt / Norddeutsche Allgemeine Zeitung / Die Internationale / Deutsche Allgemeine Zeitung / [Einheitsausgabe] [Berliner Ausgabe] (1.VII.1861-29.V.1933) (18.VI.1933-24.IV.1945)
- Nordische Volkszeitung / NA von: Germania, Berlin (1895-1933)
- Die Post (1.VIII.1866-30.VI.1921)
- Der Reichsbote (1.VII.1873-31.V.1936)
- Die rote Fahne (9.XI.1918-20.X.1923) (1.III.1924-27.II.1933)
- Sächsisches Tageblatt / NA von: Germania, Berlin (1.XII.1910-29.XII.1929)
- Staatsbürger-Zeitung / ["Alte Held'sche"] (1.I.1865-6.XII.1914) (11.II.1917-4.XII.1926)
- Die Welt am Montag (1895-27.II.1933)
Als Chronist ist Szittya nicht unumstritten und im vorliegenden Fall nur schwer nachprüfbar. Vom Verbleib der erwähnten Totenmaske ist nichts bekannt und dass man in "allen Zeitungen" über Gross schrieb, widerlegt. Wer mag "Fabrikant Staub" sein?
Dr. Chris Hirte, Berlin, recherchierte freundlicherweise in den Adreßverzeichnissen und Biographien der Berliner Staatsbibliothek zum Namen Staub (wofür ich ihm herzlich zu Dank verpflichtet bin). Demnach existierten 1920 drei Personen in Berlin, die der Beschreibung ensprechen könnten.
- Dr. Alfred Staub, Fabrikant, Besitzer der Berlin-Perleberger, Maschinenfabrik und Metallgießerei, Berlin W 50, Spichernstraße 17, 18 IV.
- Bruno Staub, Fabrikant, Moderne Wohnungs-Einrichtungen, O 27, Alexanderstr. 23, Wohnung SO 16, Michaelkirchstraße 9, 10
- Ludwig Staub, Fabrikdirektor, geb. 17.7.86 in Myslowitz OS, Joachimsthaler Gymnasium, Pharmaziestudium, Pharmazeut und Chemiker, Feldapotheker, 1918 Gründung der Eulith GmbH, Chemisch-Pharmazeut. Fabrik in Berlin, ab 1925 Vorst.mitglied der chem. Fabrik Helfenberg AG, dann Geschäftsführer der Chem. Gesellsch. Rhenania, Wevelinghoven, Rheinland, Tochterges. der Helfenberg AG
Hirte selbst favorisiert als "Zielperson" Ludwig Staub, auf den ein "Bekanntschaftsraster" am ehesten zuzutreffen scheint: vermutlich aus jüdischem, großbürgerlichen Hause (Myslowitz, Joachimsthaler Gymnasium), Kenntnisse in Pharmazie, Feldapotheker = erfahren im Umgang mit Drogen. (Hirte, Chris: Mail vom 7. Januar 2002)
5) Jung, Franz: Der Weg nach unten : Aufzeichnungen aus einer großen Zeit. Neuwied a.R. u. Berlin-Spandau : Luchterhand, 1961, S. 91f.
6) Green, Martin B.: The Von Richthofen Sisters : the triumphant and the tragic modes of love. Else and Frieda von Richthofen, Otto Gross, Max Weber, and D. H. Lawrence, in the Years 1870 - 1970. New York : Basic Bks, 1974; hier zitiert nach: Ders., Else und Frieda - die Richthofen-Schwestern. München: Kindler 1976, S. 52
7) Gruhle, Wolfgang: Mail an den Autor vom 28. August 2004
8) Hurwitz, Emanuel: Otto Gross - Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung. Zürich u. Frankfurt : Suhrkamp 1979, S. 306; Eine Bestattung von Gross auf einem Berliner Friedhof kann nicht nachgewiesen werden.
- Bezirksamt Pankow: Nicht nachzuweisen (Auskunft vom 21. Oktober 1998)
- Ev. Friedhöfe Nordend (Bereiche Gethsemane, Frieden-Himmelfahrt, Zion): keine Unterlagen (Auskunft vom 3. Februar 1999)
- Israelitische Synagogen-Gemeinde (Adass Jisroel), Friedhof: Wittlicher Str. 2, Gemeindebüro: Tucholskystr. 40: Nicht nachzuweisen (Auskunft vom 11. Oktober 2000 und vom 15. Februar 2001; die erste Bestattung hat dort am 24. Februar 1880 stattgefunden)
- Jüdischer Friedhof Weißensee, Stiftung "Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum", Herbert-Baum-Str. 45: Nicht nachzuweisen (Auskunft vom 15. September 1999 und vom 15. Februar 2001)
- Konfessionelle Friedhöfe (Pankow/Umgebung, u.a. Ev. Gemeindefriedhof Weissensee), Piesporterstr. 9: Nicht nachzuweisen (Auskunft Claus Berndt, Berlin)
- Städtische Friedhöfe (Pankow/Umgebung, u.a. Weissensee), Roeckestr. 48: Nicht nachzuweisen (Auskunft Claus Berndt, Berlin)
In den Krematorien Berlins gibt es keine Angaben über eine Einäscherung von Otto Gross. Einäscherungen wurden in Berlin seit 1912 durchgeführt. In den Krematorien Baumschulenweg und Wedding gibt es keinen Eintrag über eine Einäscherung von Otto Gross, das Krematorium in Wilmersdorf wurde erst 1922 in Betrieb genommen.
Für tatkräftige Unterstützung bei den Recherchen nach einer Grabstätte von Otto Gross bin ich Claus Berndt, Berlin, herzlich dankbar.
9) Jung, Cläre: Paradiesvögel : Erinnerungen. Hamburg : Nautilus Nemo Pr., 1987, S. 76ff.
10) Mück, Hans-Dieter: Der Uracher Kreis Karl Raichles: "Roter Verschwörerwinkel" am "Grünen Weg". Sommerfrische für Revolutionäre des Worts. Dokumente einer Utopie 1918 - 1931. (Kulturwissenschaftliche Bibliothek. Sonderreihe 1). Stuttgart : Stöffler & Schütz, 1991, S. 83
11) Dehmlow, Raimund: Der Schrei verhallt heut' meist ungehört. Dokumentation und Rezeption nachgelassener Analysen und Träume des Otto Gross. 2001, 2005
12) Jung, Franz: Die Technik des Glücks : Psychologische Anleitungen in vier Übungsfolgen. Berlin : Malik, 1921, S. 70
13) Kafka, Franz: Briefe an Milena. Frankfurt a.M. : Fischer, 1983, S. 78
14) Kafka, Franz: Briefe 1902-1924. Frankfurt a.M. : Fischer, 1958, S. 196
15) Vernehmung Nina Kuh. Stadtrat Graz als Sicherheitsbehörde am 20. Juni 1918, StLA: BG Graz I, P-IX-20/1914, Bl. 148; das Vernehmungsprotokoll von Nina Kuh und Hermann Zafita wurde von Andreas Hansen, Berlin, im Steiermärkischen Landesarchiv, Graz, ermittelt.
16) Vernehmung Hermann Zafita. Stadtrat Graz als Sicherheitsbehörde am 19. Juni 1918, StLA: BG Graz I, P-IX-20/1914, Bl. 493r u. v
17) Dvorak, Josef: Kokain und Mutterrecht. Die Wiederentdeckung von Otto Gross (1877-1920). In: Neues Forum. Jg. 25. 1978, H. 295/96, S. 59
18) Dehmlow, Raimund u. Rolf Mader: Ein Brief kommt nicht an: Otto Gross und die Münchener Räterepublik, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit. 2001, No. 16, S. 495, s.a. www.ottogross.de/index.php/de/otto-gross/115-ein-brief-kommt-nicht-an-die-botschaft-bleibt-erhalten-otto-gross-und-die-muenchener-raeterepublik