Mit der 37. Verlegung von Stolpersteinen gedenkt die Stadt Magdeburg am 31. August 2023 weiterer Opfer des Nationalsozialismus. An 12 Verlegeorten wird im Stadtgebiet an 26 verschleppte und ermordete Magdeburgerinnen und Magdeburger erinnert.
- Margarethe und Alexander Safian (Lüneburgerstr./Ecke Rollenhagenstraße, früher Lüneburgerstr. 2)
- Hertha Levi (Ernst-Lehmann-Str., nahe Pfälzer Platz, früher Pionierstr. 1)
- Chana, Gina, Toni, Moses Aaron und Salomon Neumann (Mühlenstraße 4/6, früher Große Storchstr. 9)
- Ernestine und Max Beer (vor dem Eingang der Jakobstr. 46, früher Große Storchstr. 13)
- Sofia und Samuel Margulies (vor dem Eingang Jakobstraße 52, früher Nr. 33)
- Fritz Ephraim Fischel, Leo Arie, Hilda Hinda und Hersch Hermann Zwi Schönwetter (schräg gegenüber der Großen Steinernetischstraße 6, früher Nr. 17)
- Paul Rinkel (vor dem Eingang Breiter Weg 32, früher Katharinenstr. 12)
- Margarete Zäge (Erzbergerstraße/Ecke Am Krökentor, früher Beaumontstr. 3)
- Rosa und Nathan Neumann (gegenüber vom Eingang Breiter Weg 111, früher Zschokkestr. 19)
- Felix Panke (Breiter Weg 128, früher Nr. 147)
- Philipp Lilienfeld (Einsteinstraße 10, früher Blumenthalstr. 10)
- Eva Charlotte Henriette, Leonie und Gustav Lewin sowie Heinz Walter Ferdinand Lewin-Guradze (Steubenallee 3, früher Sternallee 3)
(In vielen Fällen stimmen die für die Verlegung gewählten Adressen infolge der Zerstörungen durch den 2. Weltkrieg oder nachträglich geänderter Straßenführung nicht mehr mit den ursprünglichen Wohnadressen der Opfer überein.)
Gedenkblätter mit Informationen zu den Biografien der Opfer, die von der Arbeitsgruppe „Stolpersteine für Magdeburg" recherchiert wurden, finden sich unter www.magdeburg.de/.
Magdeburgs Oberbürgermeisterin Simone Borris nimmt an der Verlegung der Stolpersteine für die Familie Lewin-Guradze, zu der auch Angehörige aus Israel anreisen, teil. Im Anschluss an die Verlegungen werden die Familienangehörigen zum Gespräch mit Interessierten im EineWeltHaus in der Schellingstr. 3-4 zusammentreffen.
Beeindruckend ist das Spendenaufkommen seitens der Magdeburgerinnen und Magdeburger als Reaktion auf einen Aufruf der Arbeitsgruppe „Stolpersteine für Magdeburg": 60 Spenderinnen und Spender stellten einen Betrag von knapp 10.000 Euro für weitere Verlegungen bereit. Spendenkonto: Landeshauptstadt Magdeburg, Sparkasse Magdeburg, IBAN DE02 8105 3272 0014 0001 01, Verwendungszweck: 37994311/Stolpersteine
Und auch die Suche nach „Putzpaten" für die bereits verlegten Stolpersteine ist von beachtlichem Erfolg gekrönt: Zahlreiche Einzelpersonen, Schulen, Kita's, Vereine, Institutionen, Verbände, Kirchen, Gewerkschaften und Parteien, die sich dauerhaft für die Pflege der mittlerweile in Magdeburg verlegten Stolpersteine verantwortlich fühlen, haben sich zur Verfügung gestellt, so dass nur noch für 20 Standorte Paten gesucht werden. Kontakt:
Wer waren die Menschen, an die erinnert wird?
„Ich hasse Polen!" So lauten die letzten Worte, die der 13-jährige Salomon Neumann von seinem Vater Moses Aaron am Abend vor dessen Abschiebung nach Polen am 27. Oktober 1938 hört.
Er wusste wohl, dass der Vater im 1. Weltkrieg Soldat der k.u.k.-Armee und in Kriegsgefangenschaft war, eher nichts von dem Pogrom in Strzyzów, der Heimatstadt des Vaters, am 5. November 1918, bei dem die Bevölkerung jüdische Geschäfte beraubt, Juden aus den Häusern gezerrt und geschlagen werden, drei ihr Leben verlieren, wohl auch eher nichts vom Pogrom am 21. April 1919 als Strzyzów schon zu Polen gehört. Das Gerücht über einen aufgedeckten Ritualmord dient als Vorwand und etwa ein Dutzend Juden wird verletzt, einer stirbt an seinen Verletzungen, auch der Großvater soll an den Folgen dabei erlittener Verletzungen gestorben sein.
Das alles waren Gründe warum viele jüdische Familien Polen auf der Suche nach einer besseren Zukunft in Westeuropa oder den USA zu verlassen. Die Neumanns - das sind Vater Moses Aaron, Mutter Chaja und die Töchter Chana, Toni und Gina - kommen nach Magdeburg, wo der Vater als Religions- und Hebräischlehrer sowie als Küster für Achduth (= Einheit), eine Vereinigung orthodoxer Juden, in Dienst geht und 1925 der Sohn Salomon geboren wird. Sie leben in der Großen Storchstr. 9, erst in der 2. Etage, dann im Erdgeschoss, mit Speisezimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Küche und dem Wohnzimmer mit zwei großen Bücherschränken mit wertvollen Büchern. Hier versammelt sich die Gemeinde abends um die heiligen Schriften zu studieren.
Weitsichtige Verwandte in den USA schicken der Familie 1933 Tickets für die Ausreise, wogegen sich aber besonders die Mutter ausspricht und die Familie in Magdeburg bleibt. Sie stirbt im Alter von 56 Jahren am 20. November 1933 im Krankenhaus Altstadt und wird auf dem Jüdischen Friedhof am Fermersleber Weg zu Grabe getragen.
Am 27. Oktober 1938 wird Moses Neumann verhaftet und im Zuge der so genannten „Polenaktion" am darauffolgenden Tag des Landes verwiesen. Mit Zehntausenden Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft wird er nach Bentschen/Zbąszyń an die polnische Grenze transportiert. 1941 gelangt Moses Neumann in das inzwischen von Deutschen besetzte Krakau, wo sich auch die Tochter Toni aufhält und später mit ihr zusammen nach Strzyzów.
Die Tochter Chana, die inzwischen in Bamberg lebt, wird dort kurzzeitig verhaftet. Nach der Freilassung kehrt sie nach Magdeburg zurück und lebt noch bis Januar 1939 in der elterlichen Wohnung. Später gelingt ihr mit Gina und Salomon die Flucht nach England, wo Chana am 1. März 1942 letztmalig Nachricht aus Strzyzów von Vater und Schwester erhält.
Strzyzów ist seit dem 15. September 1939 von Deutschen besetzt und durchaus ein historischer Ort: Hier entstand als „Anlage Süd“ eines von Hitlers Führerhauptquartieren. Es besteht unter anderem aus zwei Bunkern zum Schutz des persönlichen Zugs Hitlers, einem Bunker bei Stepina und einem bei Strzyzów. Sie sind beide jeweils fast 400 Meter lang und aus Stahlbeton mit einer Stärke von zwei Metern. Im Sommer 1941 fertig gestellt, kommt es hier am 27. August zu einem Treffen Hitlers mit Benito Mussolini.
Am 24. Juni 1942 beginnt die Umsiedlung der jüdischen Einwohner Strzyzóws in das Ghetto von Rzeszów, das aus zwei Teilen besteht: einem für die Alten, Kinder und Frauen (die in der Regel nicht sehr lange zu leben haben) und einem für die Männer im Alter von 18 bis 45 Jahren, die als Arbeitssklaven rund um die Stadt eingesetzt werden.
Im Juli 1943 wird das Ghetto von der Gestapo, Polizei und einem SS-Bataillon liquidiert, die Juden müssen all ihre Habseligkeiten abgeben und werden zum Bahnhof in Staroniw geführt, von wo aus sie in Viehwaggons verladen werden und zu verschiedenen Lagern deportiert. Die meisten der Juden aus Strzyzów und Rzeszów werden in Belzec ermordet oder in Rzeszow, Glogow Pustkow oder den Wäldern erschossen - so auch Moses Aaron und Toni Neumann.
Chana Neumann bleibt in England, wo sie heiratet. Gina gelangt nach Palästina, wo sie sich im Kibbutz Rodges bei Petach Tikwa ansiedelt und zur Krankenpflegerin ausgebildet wird. Später reist sie nach Frankreich aus, wo sie in Flüchtlingslagern tätig wird und heiratet. Salomon, später Shlomo, wird in England in der Jugend-Alijah aktiv, ehe er 1947 mit der „Exodus" nach Palästina gelangt und sich im Kibbutz Lavi westlich des See Genezareth niederlässt, wo er eine Familie gründet.
Hilda Hinda und Hersch Hermann Zwi Schönwetter stammen aus Brzostek im Karpatenvorland, zwischen Tarnów im Westen und Rzeszów im Osten gelegen, das eine wechselvolle Geschichte hat: Seit 1367 unter Magdeburger Recht war es Juden erst 1816 erlaubt, sich dort anzusiedeln. Seit 1848 gab es dort eine jüdische Gemeinde mit Synagoge, Badehaus und Schule, schon 1870 leben in der Stadt 358 Juden, 1910 sind es 514, die ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Zunächst zur k.u.k.-Monarchie gehörend, ist es 1914/1915 vorübergehend in russischer Hand, die Juden werden von den russischen Behörden unterdrückt, 1914 eine Verordnung erlassen, die die Bewegungsfreiheit der Juden im Frontbereich einschränkt. Im selben Jahr vergewaltigen Soldaten des sibirischen Regiments jüdische Frauen. 1918 fällt Brzostek an Polen. Die Beziehungen zwischen Polen und Juden verschlechtern sich erheblich, als es im Frühjahr 1919 zu Unruhen kommt, die sich gegen die jüdische Bevölkerung richten, polnische Jugendliche aus den umliegenden Dörfern Steine auf jüdische Geschäfte werfen.
Hersch Schönwetter stammt aus einer kinderreichen Familie, die einen Bauernhof von 30 Morgen besitzt. Der Vater Shlomo wird als orthodox und zugleich fortschrittlich beschrieben. Hersch ist der älteste Sohn, nach ihm sind die Kinder Josef (* 1894), Abraham (*1897), Wolf (* 1898) und Chana (* 1902) geboren. Hilda Schönwetter ist Herschs Cousine und die jüngste in ihrer Familie. 1923 heiraten Hersch und Hilda Schönwetter in Brzostek und am 12. November 1924 kommt dort der Sohn Fritz Efraim Fischel zur Welt.
Nicht zuletzt wegen der zunehmenden Ausschreitungen gegenüber Juden, aber auch der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation entschließt sich die junge Familie im gleichen Jahr zu einem Wechsel nach Deutschland. In Magdeburg bezieht die Familie eine Wohnung im Erdgeschoss der Großen Steinernetischstraße 17 und Hersch Schönwetter eröffnet dort ein Abzahlungsgeschäft für Textilwaren. Die Geschäfte laufen zufriedenstellend, ein weiterer Sohn, Leo Arie, wird am 1. April 1928 in Magdeburg geboren.
Der Nationalsozialismus bringt einschneidende Veränderungen besonders im Leben der jüdischen Bürger Magdeburgs, Entrechtung und Willkür bestimmen das tägliche Leben. Das Geschäft der Schönwetters erlebt erhebliche Einbußen und die Familie hat Schwierigkeiten, bei geringerem Einkommen den Lebensunterhalt zu bestreiten. Ende Oktober 1938 lässt das NS-Regime rund 17.000 Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft verhaften, ausweisen und gewaltsam zur polnischen Grenze verbringen. Die gesamte Familie Schönwetter ist betroffen und wird unter Zurücklassung ihrer Habe an den Grenzort Bentschen/Zbąszyń verbracht, wo sie sich etliche Tage unter widrigen Wetterbedingungen aufhält, ehe sie sich entschließt, in ihren Heimatort Brzostek zurückzukehren.
Schon im November 1939 marschieren deutsche Truppen in Brzostek ein, bald darauf sind Juden gezwungen, den Judenstern zu tragen, ihnen wird untersagt, abends die Wohnung zu verlassen, wie ihnen das Betreten öffentlicher Lokale und Plätze verboten ist. Jüdisches Eigentum wird beschlagnahmt, jüdische Geschäfte geschlossen, 1941 ein Ghetto errichtet. Im gleichen Jahr wird der 17-jährige Fritz von der Familie getrennt und zum Arbeitseinsatz in verschiedene Konzentrationslager deportiert, ehe er am 16. Januar 1945 mit 5.000 anderen jüdischen Insassen aus dem Zwangsarbeitslager Tschenstochau der HASAG Warta befreit wird.
Die Eltern und der Bruder sind in Brzostek zurückgeblieben. Im April 1941 werden sie nach Treblinka deportiert, wo sie am 18. August 1942 ermordet werden. Von den 479 Juden Brzosteks überleben nur wenige. Sofern sie nicht im Ghetto selbst ums Leben kommen, werden sie in den umliegenden Wäldern erschossen, wie alle Geschwister Hilda Schönwetters und ihre Familien, darunter sechs Kinder. Fritz Schönwetter ist der einzige Überlebende der Familie. Er findet in Haifa eine neue Heimat.
Der Film „A Town called Brzostek" (2014) handelt von der jüngsten Umwidmung des jüdischen Friedhofs in Brzostek, größtenteils auf Initiative des ehemaligen Oxford-Universitätsprofessors Jonathan Webber, dessen jüdische Familie Wurzeln in der Region hat. Eine des Thesen des Films ist, dass 85 % aller jüdischen Familien auf der Welt ihre Wurzeln in Polen haben, allerdings fast überall eine eher negative Erinnerung an diese Wurzeln besteht.