Die Stadtbibliothek Magdeburg eröffnet am 19. März die Ausstellung „Belastetes Erbe. Provenienzforschung zu NS-Raubgut in öffentlichen Bibliotheken Sachsen-Anhalts", die bis Ende November auf allen Etagen der Zentralbibliothek (Breiter Weg 109) zu den üblichen Öffnungszeiten (Mo - Fr 10-19 Uhr, Sa 10-13 Uhr) in Augenschein genommen werden kann. 

Belastetes Erbe

Sie dokumentiert damit ein mehrjähriges wissenschaftliches Forschungsprojekt des Landesverbands Sachsen-Anhalt im Deutschen Bibliotheksverband e.V., das durch das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste und das Land Sachsen-Anhalt unterstützt wurde. Im Juli 2017 gestartet, hatten sich an diesem Projekt Bibliotheken in Dessau, Magdeburg, Sangerhausen, Wernigerode und Zerbst beteiligt. Kern der Projektarbeit war die Suche nach Büchern, die einstmals Juden und anderen Verfolgten des NS-Regimes gehörten, in den Beständen der beteiligten Bibliotheken. Vergleichbare Recherchen sind auch aus anderen Bundesländern, wie z.B. Niedersachsen (arrow Spuren der NS-Verfolgung - in Hannover) bekannt.

Was lange währt ...

Es entbehrt nicht einer gewissen Frustration sich zu verdeutlichen, dass Bemühungen, den auf der Grundlage rassistischer Gesetzgebungen im Nationalsozialismus staatlich organisierten Raub zu restituieren, immer noch derart zäh in praktische Maßnahmen umgesetzt werden: mit der so genannten „Londoner Erklärung" existiert seit 1943 die Grundlage für die Restitutionsregelungen der alliierten Besatzungsmächte in Deutschland. Entsprechende Rückerstattungsgesetze regelten seinerzeit allerdings Restitutionen und Wiedergutmachungen nur auf westdeutschem Territorium. Erst 1990 konnten nach dem Vermögensgesetz der DDR Ansprüche von Geschädigten für das ostdeutsche Gebiet geltend gemacht werden. Mit der „Washingtoner Erklärung" von 1998 einigten sich 44 Nationen darauf, Sammlungen und Bestände auf das Vorhandensein von NS-Raubgut zu überprüfen, identifizierte Objekte an die Opfer oder deren Erben zurück zu geben oder nach gerechten und fairen Lösungen zu suchen. Mit der Erklärung zur „Auffindung und Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ vom Dezember 1999 („Gemeinsame Erklärung“) haben sich Bund, Länder und kommunale Spitzenverbände zur Verwirklichung der Washingtoner Erklärung bekannt. Im Jahr 2000 wurde von der in Magdeburg angesiedelten Koordinierungsstelle die so genannte Lost Art-Datenbank online geschaltet (arrow www.lostart.de), durch die Such- und Fundmeldungen zugänglich werden. Über die Arbeitsstelle für Provenienzforschung (AfP) am Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz setzte 2008 schließlich die staatlich finanzierte Unterstützung der Provenienzforschung ein. Ab 2012 wurden sukzessive in mehreren Bundesländern erste feste Stellen für Provenienzforscher eingerichtet und 2015 die Stiftung Deutsches Zentrum für Kulturgutverluste mit Sitz in Magdeburg gegründet.

Was bietet nun die Magdeburger Ausstellung?

Neben den methodischen Aspekten werden in der Ausstellung Organisationen wie der Nationalsozialistische Lehrerbund thematisiert, die in die Mechanismen der unrechtmäßigen Bereicherung ebenso eingebunden waren wie verschiedene Ebenen der staatlichen Verwaltung wie beispielsweise die arrowGerichtsvollzieher.

Ein Schwerpunkt der Ausstellung widmet sich den Lebensgeschichten jüdischer Familien aus Magdeburg. Sie wurden vom NS-Staat ausgeplündert, in Vernichtungslagern ermordet oder ins Exil getrieben. So war die Suche nach Hinweisen auf die ehemaligen Eigentümer von Büchern, die sich im Bestand der Stadtbibliothek Magdeburg befinden, ein zentraler Teil der Arbeit des Forschungsprojektes. Die durchgeführten Recherchen führten auch zu Büchern möglicher Vorbesitzer, die in der Ausstellung vorgestellt werden. Zu diesen gehört

- das Ehepaar Dr. med. Erika Rosenthal-Deussen und Prof. Dr. med. Werner Rosenthal

Prof. Dr. med. Werner RosenthalDr. med. Werner Rosenthal wird am 24. Juni 1870 in Berlin geboren. Seine Eltern sind der Physiologe Prof. Dr. med. Isidor Rosenthal und seine Ehefrau Anna, geborene Höher. Die Eltern Werner Rosenthals sind jüdischer Herkunft, allerdings tritt Isidor Rosenthal bereits 1872 aus der jüdischen Gemeinde aus. Werner Rosenthal besucht das Gymnasium in Erlangen, anschließend nimmt er dort und in Berlin und Kiel das Studium der Medizin auf. 1893 wird er in Erlangen mit der Arbeit „Thermoelektrische Untersuchungen über die Temperaturvertheilung im Fieber“ promoviert und absolviert 1894 das Staatsexamen, ehe er in Erlangen, Turin und Freiburg forschend tätig wird. Weitere berufliche Stationen führen ihn nach Straßburg und Frankfurt/M. Nach einer Assistententätigkeit am pathologisch-anatomischen Institut in Basel wechselt er 1905 an das hygienische Institut in Göttingen und kann sich 1907 habilitieren. 1911 erhält er das Prädikat „Professor“.

Dr. med. Erika Rosenthal-Deussen1916 heiratet Rosenthal die am 9. September 1894 in Kiel geborene Erika Deussen, die 1920 gleichfalls in Erlangen (mit der Arbeit „Das Facialisphänomen. Sein Vorkommen u. s. Bedeutung nebst Untersuchungen über d. galvanische Erregbarkeit grösserer Kinder“) promoviert wird. Zuvor hat sie 1914 die Reifeprüfung am Realgymnasium Leipzig abgelegt und von April 1914 bis März 1916 in Kiel Medizin studiert. Von August bis Oktober leistet sie Kriegshilfsdienst im hygienischen Institut der Universität Kiel, ehe sie 1916 nach Erlangen wechselt und 1916 die ärztliche Vorprüfung und 1919 die ärztliche Staatsprüfung absolviert. Bis zum Dezember 1920 ist sie als Medizinalpraktikantin in Erlangen tätig. Das Ehepaar bekommt drei Töchter (Ruth *1916, Eva *1918, Anna Beate *1922).

Werner Rosenthal wird 1921 Außerordentlicher Professor und Privatdozent an der Göttinger Universität, 1923 stellvertrender Kreisassistenzarzt sowie Schul-, Fürsorge- u. Polizeiarzt in Göttingen. Allerdings erreicht er nicht zuletzt wegen seiner politischen Auffassungen (er gehört der „Deutschen Demokratischen Partei“ an) und seiner jüdischen Herkunft nie das Endziel der akademischen Laufbahn, wird von der Universität beurlaubt und Kreisassistenzarzt in Hagen. Erika Rosenthal-Deussen, die der SPD angehört, ab 1921 Volontärassistentin in Göttingen und Erlangen, 1926 Volontärärztin in Düsseldorf, später in Göttingen, erhält 1928 den Auftrag, die Gewerbeaufsicht im Bezirk IV (Magdeburg, Erfurt und Merseburg) zu übernehmen, 1929 wird sie zur Gewerbemedizinalrätin in Magdeburg mit Amtssitz Remtergang 1 ernannt. 1931 wird sie Schriftführerin der Ortsgruppe Magdeburg des Bundes Deutscher Ärztinnen (BdÄ) und ist in etlichen Ausschüssen der Organisation aktiv, sowie - wie ihr Ehemann - Autorin bzw. Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen. Das Ehepaar wird 1933 infolge des Berufsbeamtengesetzes (BBG) entlassen, der Versuch der Rosenthals, eine Kassenarztpraxis am Ort, Breiter Weg 135, zu betreiben, scheitert schon nach kurzer Zeit. 1934 emigriert das Ehepaar mit der Tochter Ruth nach Indien, wo Werner Rosenthal in Mysore eine Professur am Seruminstitut des Medical College erhält, Erika Rosenthal-Deussen in der Frauen- und Kinderfürsorge tätig wird. Im April 1942 stirbt Werner Rosenthal in einem Internierungslager in Yercaud im indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Nach dem Tod des Ehemannes wird Erika Rosenthal-Deussen in Indien zunächst als Schulärztin tätig, ehe sie in die Vereinigten Staaten verzieht, wo sie als Psychiaterin an einer Klinik tätig wird. Sie leidet an einer Depression und begeht am 20. August 1956 Suizid.

Fachkreise würdigten zumindest die Verdienste und das Schicksal Werner Rosenthals postum: Seit 2010 vergibt die Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie (DGGN) einen „Werner-Rosenthal-Award“ an Nachwuchswissenschaftler und erinnert damit auch daran, dass nach Rosenthal schon zu Lebzeiten eine bestimmte pathologische Struktur, die so genannten „Rosenthal-Fasern“ benannt wurden.

- und das Ehepaar Ilse und Dr. med. Hans Aufrecht (für die 2012 in der Magdeburger Otto-von-Guericke-Str. 105 arrow Stolpersteine verlegt wurden).

Ehepaar Ilse und Dr. med. Hans AufrechtDr. med. Hans Aufrecht, geboren am 12. Februar 1899 in Loslau (Oberschlesien), absolviert sein Abitur 1917 in Breslau. Er ist Kriegsteilnehmer bevor er 1919-1924 in München und Breslau Medizin studiert. Zunächst Medizinalpraktikant in Hamburg, wird er 1926 dort mit der Arbeit „Die Bedeutung des Traumas für die Entstehung des Mammacarcinoms“ promoviert und erhält die ärztliche Approbation. 1927 wird Aufrecht Assistenzarzt in Magdeburg und heiratet 1929 Ilse Rothgießer (*9. Oktober 1901 in Breslau). Ab 1930 lässt sich Aufrecht mit einer Praxis als Facharzt für Innere Medizin in der Otto-von-Guericke-Straße 104 nieder, ab 1933 wird Ilse Aufrecht Sprechstundenhilfe in der Arztpraxis ihres Mannes. 1938 wird ihm die Approbation aberkannt, seine Praxis verwüstet und er selbst verhaftet und bis November im KZ Buchenwald festgehalten. Das Ehepaar verlässt Magdeburg, lebt zunächst in Köln, später in Frankfurt/Main und wird von Köln am 7. Dezember 1941 nach dem Ghetto Riga deportiert, von dort in das KZ Stutthof. Am 8. Januar 1945 wird Ilse Aufrecht in Stutthof ermordet, Dr. Hans Aufrecht gerät auf einen der berüchtigten Todesmärsche, wird in Lauenburg befreit, wo er von einem Sowjetsoldaten erschossen wird.

Ausblick

Über die Sinnhaftigkeit des Projektes mag man - ohne den Projektmitarbeitern zunahe zu treten - geteilter Meinung sein. Der nationalsozialistische Bestandskanon der seinerzeitigen Volksbüchereien lässt vermuten, dass nicht diese, sondern vornehmlich wissenschaftliche Bibliotheken, Antiquariate und Privatpersonen Nutznießer des großangelegten Raubzuges im NS-Staat gewesen sind, stammen doch die geraubten Buchbestände in erster Linie aus Kreisen des jüdischen Bürgertums, werden - erst recht in Fällen ohnehin indizierter Literatur - in "Giftschränken" von wissenschaftlichen Bibliotheken verwahrt oder in eigens geschaffenen Einrichtungen deponiert worden sein, wie im Institut zur Erforschung der Judenfrage in Frankfurt. Als in Magdeburg verschollen gilt übrigens auch die wertvolle Bibliothek des Hebräisch- und Religionslehrers Moses Aaron Neumann, zugleich Küster der orthodoxen Jüdischen Religionsgemeinde Achduth, der nach seiner Ausweisung aus Deutschland 1938 in seinem Heimatort Strzyżów, inzwischen von Deutschen besetzt, festgesetzt und 1943 wie die Tochter Toni ermordet wurde.