Otto Gross an Frieda Weekley
III Meine Geliebte, ich habe Sorge, grosse Sorge um Dich - ich bitte Dich dringend nur um ein paar Worte - wenn Du besonders gut sein willst, am liebsten ein Telegramm - das müsstest Du aber, bitte, so stilisieren, dass ich ein wenig von Deiner momentanen Stimmung daraus verstehen könnte, nicht ? Siehst Du, ich habe ja
nicht mehr um Deine Liebe Angst - seit jener Nacht auf dem Schiff [1] wäre die Angst wohl nicht mehr er- laubt - aber ich habe Angst um Dich, um Deinen Zukunftsmuth - ob Deine Kraft gerade der erdrosselnden lang- sam auf Alles sich legenden Kleinlichkeit des ganzen grauen kalten Lebens in jenem Milieu ge- wachsen ist - ich weiss, gerade dieser Aussenwelt und ihren
Schädlichkeiten bist Du nicht angepasst - so wie von allen wirklich freien und stolzen Thieren kaum Irgendeines die Gefangen- schaft erträgt - - - ich habe Angst um Deine Kraft zum Wider- stand, zum Ganzbleiben gerade wegen Deiner prachtvollen Art, gerade weil Du zur Freiheit und nur zur Freiheit geboren bist. Gerade darum hab' ich Angst um Dich - was
wird aus Dir in dieser fremden, in dieser uns ewig unmöglichen Welt ? Antwort mir bald - Türkenstr. 81 [2] oder Cafe Stephanie [3]! am liebsten Telegraphieren - bleib stark und frei, Du darfst nicht unterliegen - es muss eine Hilfe kommen Dein Otto
1) Vermutlich ist eine gemeinsame Überfahrt von Holland nach England gemeint 2) Gross wohnt Türkenstr. 81/II 3) Im "Wiener Café Stephanie", Ecke Amalienstraße 14/Theresienstraße in München, im Volksmund "Café Größenwahn" genannt, ist Gross ständiger Gast; vgl. auch: Wilhelm, Hermann: Die Münchener Bohème. Von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg. München: Buchendorfer 1993, S. 85-87
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