Zusammenfassung

Otto Gross schreibt nach längerer Unterbrechung an Frieda Weekley und beschwört sie, nur dann bei ihrem Ehemann Ernest zu bleiben, wenn dies nicht "ohne Selbsterniedrigung" oder um ihrer Kinder willen geschehe.

Gross zitiert Frieda Weekley, wonach sie nicht das Recht habe, "die Existenz eines guten Menschen auf's Spiel zu setzen" und erklärt, daß sie sich - im Falle einer Trennung von ihrem Ehemann - nur das eigene "unveräusserliche", (...) "niemals durch Vertrag und Pflichtgelöbnis" verloren gegangene "Recht der Selbstbestimmung" nehme.

Otto Gross an Frieda Weekley

[1]

a.
Meine Geliebte,
ich habe es immer
hinausgeschoben Dir
zu schreiben - es ist
in meinem Kopf be-
ständig herumgegangen,
ohne dass ich zur rechten
Klarheit gekommen wäre.
Ich habe mir Tag und
Nacht Arbeit gemacht,
um neue Schlüssel
zur Seele zu finden
- Frieda, wie sich doch
sonderbar im Seeleninneren

die Zukunft mit Ver-
gangenem, die Sehn-
sucht mit der Schwäche
kreuzt - - - Geliebte,
ich wiederhole Dir doch
am Ende nur die Worte
von jener letzten Nacht
auf dem Meer [2]. -
Mach' keinen Com-
promiss in Deinem
Inneren
, hilf Dir
mit keinem falschen
Glauben
- das hat [?]
ich Dich doch als Einziger ...

Bleibst Du um Deiner
Kinder [3] willen
, so werde
ich Dir niemals ein
Wort dagegen sagen -
sobald Du aber noch
andere Motive für
Deine Pflicht und Schuld

erklärst, dann bist
Du wieder im alten
Geleise - dem "Irrthum
aus Feigheit", Frieda - -
wenn wirklich es
gelingen kann,

mit E. [4] zu einem
guten Resultat zu
kommen und ohne
Selbsterniedrigung
ein ehrliches Glück
auf ihm zu bauen -
dann wird das mir
am allermeisten eine
tiefe grosse Freude sein
wenn es nur Eines
nicht istein Selbstbetrug
der eine Selbsterniedrigung
verschleiern soll
- -

b.
Ein Selbstbetrug, um
Andere betrügen zu
können - um keine ehrliche
Lüge verwenden zu müssen, -
und dieses Eine fürchte ich =
dass Dir zur ehrlichen Lüge
die Ehrlichkeit fehlen könnte
Du sagst ja ganz wie damals
Du habest nicht das Recht
die Existenz eines guten
Menschen auf's Spiel zu
setzen ! Du nimmst Dir
aber doch Dein eigenes
Recht
- und nichts als
dieses Recht der Selbstbestimmung -

das unveräusserliche Recht,
das niemals durch Vertrag
und Pflichtgelöbnis ver-
loren werden kann- -
wie ist es möglich dies
zu
übersehen - wenn
man's nicht übersehen 
will?


1) Vermutlich von Otto Gross zunächst nicht abgeschickt, sondern erst später mit einem anderen Brief an Frieda Weekley abgesandt
2) Frieda Weekley und Otto Gross verbrachten (evtl. mehrfach) die Nacht auf der Fähre zwischen Holland und England
3) Frieda Weekley hatte drei Kinder: den 1900 geborenen Charles Montague, die 1902 geborene Elsa Agnes Frieda und die 1904 geborene Barbara Joy
4) Gemeint ist Frieda Weekley's Ehemann Ernest (* 1863, gest. 7. Mai 1954)