... die darin zufaellig enthaltene Gross Analyse wird Sie interessieren. Sie werfen die Blaetter dann einfach weg.“ So endet ein am 22. Januar 1959 verfasster Brief von Franz Jung an Leonhard Frank, in dem er auf dessen Angebot, ihm bei der Unterbringung seiner Autobiographie bei einem Verlag zu helfen, reagiert. Die angesprochene “Gross Analyse” scheint bekannt, ist doch in den seit 1961 erschienenen Ausgaben von “Der Weg nach unten” bzw. “Der Torpedokäfer” eine recht ausführliche und zudem textidentische Darstellung der Eindrücke und Erlebnisse veröffentlicht worden, die immer wieder als Basis für biographische Betrachtungen des Otto Gross als auch für die Beschreibung des persönlichen Verhältnisses von Franz Jung zu Gross genommen wurden.

Der Weg nach unten

Als ich Otto Groß in München kennengelernt habe, war er für das tragische Ende eines Einzelschicksals bereits gezeichnet.” (Franz Jung, Der Weg nach unten, Neuwied a.R., Berlin-Spandau 1961, S. 73; Berlin 1981, S. 276; Hamburg 1985, S. 68; Leipzig 1991, S. 71) Nach dem ersten Zusammentreffen 1911 folgt in der Autobiographie eine detailliertere Schilderung von Jungs Erinnerungen an die Erlebnisse mit Gross seit 1913:

In dieses letzte Berliner Jahr vor Ausbruch des ersten Weltkrieges fiel meine Befreiungskampagne für Otto Groß.

Der Vater, ein Universitätsprofessor in Graz, Verfasser des “Handbuches für den Untersuchungsrichter“, ein internationales Standardwerk, hatte es sich in den Kopf gesetzt, den Sohn wieder auf die bürgerliche Existenz einer Privatdozentur an einer von ihm ausgewählten Universität zurückzuführen; wenn notwendig, mit Gewalt. Über die Vorgeschichte weiß ich wenig. Otto Groß pflegte selbst darüber nur in dem allgemeinen und erweiterten Rahmen des Vater-Sohn-Komplexes zu sprechen. Den letzten Anstoß soll ein Aufsatz gegeben haben, den Groß in einer psychoanalytischen Fachzeitung über den Vater zu veröffentlichen gedachte, ausgehend von einer Analyse des Sadismus in der gesellschaftlichen Funktion eines Untersuchungsrichters mit den Assoziationen zum Vater, der dieses Handbuch verfasst hatte, sowie die entsprechenden sadistischen Reflexe in seiner Stellung zur Familie und dem Sohn Otto. Irgendwie ist dieses Manuskript schon vor der Drucklegung in die Hände des Vaters gefallen oder diesem in die Hand gespielt worden – das war die Version von Otto Groß, der auch einen bestimmten Verdacht auf Personen aus seiner nächsten Umgebung hatte.

Aus dem latenten Unterton von gegenseitiger Abneigung entstand so der völlige Bruch. Der Vater Groß hatte vielleicht nur auf einen Anlaß dieser Art gewartet. Er schlug zu mit der Autorität, die einem berühmten Professor der Rechtswissenschaften zur Verfügung steht, mit der Absicht, den Sohn dieses Mal endgültig zu vernichten. Vorher hatte sich der Vater von einem anderen abgefallenen Freud-Schüler, dem Züricher C. G. Jung, ein Gutachten bestellt, worin dieser Jung seinen Kollegen Otto Groß als einen gefährlichen Psychopathen charakterisiert haben soll.

Gestützt auf dieses Gutachten hatte der Grazer Professor die Berliner Polizeibehören ersucht, Otto Groß festzunehmen und an die österreichische Grenze zu bringen, wo er von den vom Vater mobilisierten Schergen in Empfang genommen werden sollte.

Otto Groß war kurz vorher nach Berlin gekommen, um sich eine neue Existenz aufzubauen, nachdem er auf eine geldliche Unterstützung durch die Familie nicht mehr rechnen konnte. Er hat bei uns gewohnt, und Margot und deren Mutter, die den Haushalt führte, haben ihn betreut.

Er wurde auch in meiner Wohnung verhaftet.

Ich hatte bisher den Auseinandersetzungen mit dem Vater und der Familie nicht allzu viel Aufmerksamkeit gewidmet. Mir hatte vorgeschwebt, Otto Groß selbst zunächst auf die Beine zu stellen, ihm eine Praxis aufbauen zu helfen und ihn zu wissenschaftlichen Arbeiten anzuregen, wofür sich ein Verleger bereits gefunden hatte. Auch die “Aktion“ brachte mehrere Aufsätze, die Groß in der Wohnung Pfemferts geschrieben hatte.

Es schien auch langsam wieder bergauf zu gehen, es kamen neue Freunde. Überwunden werden mussten die tiefen Depressionen, in die Groß von Zeit zu Zeit noch verfiel. Dazu war mitfühlendes Verständnis notwendig, Hilfsbereitschaft und eine große Geduld - überraschend viele aus dem Aktions-Kreis, auch bisher sonst Fernstehende, waren dazu bereit.

Der Vorstoß des Vaters hat mich allerdings noch in ganz anderer Weise alarmiert. Um dem Ersuchen um Ausweisung bei der Berliner Polizei noch größeren Nachdruck zu geben, hatte der Grazer Professor angegeben, dass sein Sohn in die Hände von gefährlichen anarchistischen Elementen gefallen sei, vermutlich eine Erpresserbande, die frühere Untersuchungen des Otto Groß über Homosexualität ausnützen werden, ihn - den Vater - zu erpressen.

Ich erwähne das alles etwas ausführlicher in diesen Aufzeichnungen, weil ich damals noch fähig gewesen bin, zu einem Gegenschlag auszuholen; auch unter Anwendung jedes möglichen und geeignet erscheinenden Mittels. Allein diese Tatsache hat mir eine größere Selbstsicherheit gegeben, die noch lange Zeit nachher vorgehalten hat - insofern kann man diese Kampagne als einen Wendepunkt bezeichnen, der die nachfolgenden Jahre mitbeeinflußt hat.

Das von dem Vater eingeschlagene Verfahren bot eine gute Angriffsfläche – das Ansuchen um Ausweisung stellte eine ungehörige Beeinflussung der Polizeibehörden eines anderen Landes dar, die ihrerseits an eine bestimmte Prozedur, die einer solchen Ausweisung vorangehen muß, gesetzlich gebunden ist. Der Professor glaubte dies, auf seine Autorität gestützt, ignorieren zu dürfen. Die preußischen Polizeibehörden haben ihm in seiner Annahme recht gegeben. Damit rückte der Fall bereits auf zu einer Kernfrage der Innenpolitik: Welches Recht haben die Ausländer in Preußen-Deutschland überhaupt? Hinzu kam noch, dass die Verdächtigungen, die der Professor benutzt hatte, nur sehr vage waren. Er hatte sich auch nicht einmal die Mühe genommen, zum mindesten durch eine Geste, sie beweisen zu wollen.

Mit der Diversion auf das innenpolitische Gebiet und die Rechtsbeziehungen zwischen Österreich und Preußen hatte ich die Leitartikler der bürgerlichen Blätter gewonnen, die sich sogleich des Falles annahmen. Wie ein Schneeball rollte die Kampagne weiter auf die Zeitschriften, für die zusätzlich das Vater-Sohn-Verhältnis in den Vordergrund gestellt wurde, den privaten Konflikt innerhalb einer Familienbindung unter Anrufung der staatlichen Polizeiapparate lösen zu wollen; der Hinweis auf die Psychoanalyse, die soeben erst gesellschaftsfähig geworden war, goß Öl ins Feuer.

Allenthalben wurde der Professor Groß als ein Typ hingestellt, dessen Behandlung durch einen Psychiater im Interesse der allgemeinen Sicherheit als notwendiger erachtet wurde, als für den Sohn; Otto Groß war inzwischen in die Landesirrenanstalt Troppau eingeliefert worden mit dem Aktenzeichen: unheilbar geisteskrank.

Ich selbst hatte mir von Johannes R. Becher die Zeitschrift “Revolution“ ausgeborgt, die dieser in München zusammen mit Bachmair herausgab. Ich füllte die Zeitschrift mit den Zuschriften und Beiträgen von Dichtern und Schriftstellern aus aller Welt für das Recht des individuellen Erlebens gegen den gefährlichen Starrsinn väterlicher Autorität. Dem Professor wurde die Fähigkeit abgesprochen zu lehren, ein Amt zu bekleiden - eine internationale Schande für die Rechtswissenschaft. Zu Studentendemonstrationen an den österreichischen Universitäten wurde aufgerufen. Nicht genug damit: ich hatte aus dem Grazer Adressbuch Hunderte von Adressen herausgeschrieben, die Caféhäuser in Graz und Wien, die Universität, die Büchereien, die Buchhandlungen … ich habe über 1 000 Exemplare der “Revolution“ auf diese Weise versandt. Ich war darauf aus, den Professor an seiner eigenen Basis anzugreifen und zu vernichten.

Als auch die Kampagne in der österreichischen Öffentlichkeit aufgegriffen wurde, die Wiener Neue Freie Presse veröffentlichte einen Leitartikel gegen den Professor Groß, gab der Alte klein bei. Es hätte sich um ein Mißverständnis gehandelt, ließ er erklären. Otto Groß habe sich freiwillig in die Landesirrenanstalt begeben, um sich einer Entziehungskur zu unterwerfen; er könne jederzeit entlassen werden. Ich wurde telegrafisch von der Anstalt in Troppau eingeladen. Ich fuhr hin und habe Groß dort abgeholt. Ich bin empfangen worden wie ein inspizierender Minister aus der Wiener Regierung. Otto Groß war inzwischen bereits aus der Kategorie der Unheilbaren zum behandelnden Assistenzarzt in derselben Anstalt aufgerückt.

Ich möchte die Affaire Groß sogleich hiermit abschließen. Unsere Freundschaft ist in den folgenden Kriegsjahren, in denen Groß als Militärarzt eingezogen wurde, an einer Reihe äußerer Umstände verblasst und schließlich ganz zerbrochen.

Für mich bedeutete Otto Groß das Erlebnis einer ersten und tiefen, großen Freundschaft, ich hätte mich ohne zu zögern für ihn aufgeopfert. Dabei stand ich ihm wahrscheinlich äußerlich, genau gesagt, nicht einmal besonders nahe. Es war eine Mischung von Respekt und Glaube, das Bedürfnis zu glauben und zu verehren, aufzunehmen und zu verarbeiten, was er uns ständig einhämmerte. Für Groß selbst war ich vielleicht nicht viel mehr als eine Figur auf dem Schachbrett seiner Gedankenkombinationen, die hin- und hergeschoben werden konnte. Zudem war es an sich schon schwierig, den Gedankengängen zu folgen, besonders in der Form persönlichen Zusammenseins; sie waren überschattet von den äußeren Unzuträglichkeiten, die mit der Abhängigkeit von Opium und Kokain verbunden sind. Es gehörte Phantasie dazu, zu Groß zu stehen. Später ist nicht ohne Bitterkeit ein Schuldgefühl zurückgeblieben, die Erkenntnis, daß es unmöglich geworden war, ihm zu helfen.

Otto Groß ist in den ersten Monaten nach den Unruhen nach dem ersten Weltkrieg auf der Strasse in Berlin buchstäblich verhungert. Die Freunde können einmal und vielleicht noch ein andermal mit dem Revolver in der Hand Apotheken in der Nacht überfallen und Opium herausholen, aber das kann nicht zur Regel werden. Groß fühlte sich im Stich gelassen, hatte auch keine Kraft mehr, jemanden aufzusuchen und dort wieder für eine Zeit unterzukriechen. Er hatte sich eines Nachts in einen sonst unbenutzten Durchgang zu einem Lagerhaus geschleppt und ist dort liegengeblieben. Er wurde zwei Tage später aufgefunden. Eine Lungenentzündung, verschärft durch völlige Unterernährung, konnte nicht mehr behandelt werden. Er ist den Tag darauf gestorben. Der Stern eines großen Kämpfers gegen die Gesellschaftsordnung - der Stern ist explodiert, erloschen und untergegangen; die Zeit war nicht reif, das Gesindel der Satten noch zu zahlreich. Vorläufig ist der einzelne noch machtlos gegen sein Verhängnis.“ (Franz Jung, Der Weg nach unten, Neuwied a.R., Berlin-Spandau 1961, S. 87-92; Berlin 1981, S. 291-296; Hamburg 1985, S. 81-85; Leipzig 1991, S. 86-91)

Akzente in “Feinde ringsum“

Unvollständigere Schilderungen der Erlebnisse, die Jung mit Gross hatte, wurden - der Diktion Jung’s folgend - als Vorstudien zu “Der Weg nach unten” angesehen. Schließlich hatte dieser im o.g. Brief an Leonhard Frank davon gesprochen, dass von “einen fertig vorliegenden Manuskript […] überhaupt keine Rede sein” könne. “Ich habe ungefähr eine Art von Vorspann aus drei Teilen bestehend fertig, sonst einige fuer die aeussere Konstruktion wesentliche Kapitel, die aber so wie sie heute sind, nicht so bleiben werden.” So wurde in der 1982 erschienenen Sammlung “Feinde ringsum” der Essay “Akzente” von Franz Jung veröffentlicht, der wie eine Vorstudie zu “Der Weg nach unten“ daherkommt und folgende Passagen enthält:

In der Landesirrenanstalt in Troppau im damaligen Österreich-Schlesien habe ich einen technischen Werkzeichner kennengelernt, dessen Schicksale und Begebenheiten mich später all die Jahre nicht mehr loslassen sollten. Der Name war Anton Grosz. Der Zeichner stammte aus Komotau im Böhmischen.

Ich hatte in Troppau meinen Freund, den Psychoanalytiker Otto Gross aufgesucht, der in der Anstalt interniert war auf Betreiben seines Vaters – des Grazer Rechtsgelehrten, der das berühmte Handbuch für den Untersuchungsrichter verfaßt hat. Ich war gerade mit meiner ersten Veröffentlichung “Das Trottelbuch“ herausgekommen mit einem bemerkenswerten Erfolg und einem gewissen Ansehen, das mir gestattete, eine Reihe von prominenten Persönlichkeiten für eine Aktion zur Befreiung von Otto Gross einzuspannen. Neben solchen Schriftstellern wie Arnold Zweig Leonhard Frank und Johannes R. Becher, die Gross bereits aufpoliert und denen er Hemmungen für den Dichterberuf weganalysiert hatte. Becher hatte mir seine Zeitschrift “Revolution“ geborgt, die er in München zusammen mir Bachmair herausgab. Ich hatte sie mit Protesten gegen den Vater Gross gefüllt, Blaise Cendrars sprach in dieser Zeitschrift für die französischen Schriftsteller gegen die deutsche Rechtspflege.

Inzwischen hatte Maximilian Harden in der “Zukunft“, Theodor Wolff im Berliner Tageblatt und Georg Bernhard in der Vossischen Zeitung die Kampagne auf eine breitere Ebene gehoben. Der Grazer … (fehlt halbes Blatt) (Franz Jung, Feinde ringsum, Hamburg 1982, S. 136-137)

Akzente in “Grosz/Jung/Grosz“

Als Quelle für den Text wird die von Günter Böse und Erich Brinkmann herausgegebene Monographie “Grosz/Jung/Grosz”, Berlin 1980, genannt, in der sich der Text im Kapitel “Textkritik, Material, Anmerkungen der Herausgeber“ (S. 241-242) findet. Auf Auslassungen gegenüber dem Manuskript weist eine Notiz am Ende des Kapitels hin. Dort (S. 255) heißt es:

Der gedruckte Text ist um ein Viertel des Manuskripts gekürzt. Dieses schien sinnvoll, weil Passagen der Arbeit, soweit sie editorische Überlegungen Jungs oder Bemerkungen zur Geschichte der Psychoanalyse betrafen, hier nicht von Interesse sein konnten. Jeder Eingriff in einen Text ist eine schwere Entscheidung. Das Manuskript ist Anfang der zwanziger Jahre entstanden. Was Jung auf den ersten Seiten mühsam zu entwickeln versucht, ist heute zur Einschätzung des Werks von Otto Gross und Franz Jung kaum noch relevant. Die zumindest faktischen Zusammenhänge stellen sich jetzt genauer und weniger verwirrend dar, als Jung sie zu übersehen vermochte.” Es folgt ein Hinweis auf Emanuel Hurwitz’ Monographie “Otto Gross. Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung”, die 1979 erschienen ist. Der Leser wird annehmen, dass sich diese Bemerkung auf die offensichtlichen Kürzungen die im Buch enthaltenen Sammlung “Dr. med. Otto Gross. Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe” beziehen, dessen Urfassung aus dem Jahr 1920 stammt und von Franz Jung damals als Gross’ “Nachlass und der gesammelten Schriften I. Teil“ geplant war. Der wiedergegebene Text denn auch erst mit S. 10 des Originalmanuskripts. Es fehlen die Kapitel “Einleitung”, “Über die Form der Darstellung”, “Die Problemstellung der Psychoanalyse”. Das Kapitel “Analyse der Gesellschaft, Beunruhigung und Krise” ist nur zur Hälfte abgedruckt (dies immerhin vollständig bei Kreiler (Hrsg.), Otto Gross. Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Frankfurt a.M. 1980, S. 125-128, das vollständige Manuskript bei Michaels, Anarchy and Eros, New York 1983, S. 183-219 und Otto Gross. Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Hamburg 2000)

Akzente II

Eine neue Perspektive der Beziehung von Franz Jung zu Otto Gross erschließt eine Auslassung, die sowohl in "Feinde ringsum“ als auch in "Grosz/Jung/Grosz“ auftaucht und in beiden Veröffentlichungen mit “fehlt halbes Blatt” gekennzeichnet ist - denn in einem von Jungs Manuskripten fehlt es nicht. Ralph Grobmann, der 2004 seine Monographie “Gefühlssozialist im 20. Jahrhundert. Leonhard Frank 1882-1961“ veröffentlichte, stieß auf diese Überlieferungslücke und machte in seinem Buch Auszüge des Originaltextes zugänglich. “Hierin” so Grobmann, “enthüllt der einstige ‘Gefährte’ von Gross ‘Vorgänge’, die eine ‘tiefe Bitterkeit’ zurückließen.” […] “Im Winter 1914/15, als er von der Front in Polen desertierte, hat Jung nämlich Gross in Wien aufgesucht, in der festen Überzeugung, dass er mir helfen würde. […] Gross wusste mit mir nichts anzufangen, er konnte auch nichts tun, die bestehenden Dienstvorschriften in Betracht gezogen.

Neue Beunruhigung ging von mir aus, beinahe Bedrohung, in Zeiten gleich diesen, Krieg und alles das. Er hatte mich in einem Stundenhotel untergebracht, wodurch die Anmeldung vermieden werden konnte, aber ich wurde dort sehr bald verhaftet und nach einigen Monaten Haft in der Elisabeth Promenade - dort hätte Gross intervenieren können, einen Anwalt besorgen, wie er versprochen hatte - per Schub nach Deutschland gebracht, zur weiteren Behandlung. Es ist nicht das, was zählt und des Erinnerns wert. Gross ist nicht stark genug gewesen einen Kampf anzufangen und sich darin zu behaupten. Opium und Kokain haben ihm später über diese Schwäche hinweggeholfen. Was geblieben ist - das Gefühl der Distanzierung, der Entfremdung, der Schwankungen im Hoch und Tief menschlicher Bindungen, das zählt. Ich hatte damit nicht gerechnet. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass ich plötzlich selbst vor diese Wand gestellt war und, ohne Möglichkeit in einer Auswegsanalyse mich zu verkriechen, durch Gross selbst.” (Ralph Grobmann, Gefühlssozialist im 20. Jahrhundert. Leonhard Frank 1882-1961, Frankfurt a.M. 2004, S. 42-43)

Der vollständige Text, der sich im Nachlass von Leonhard Frank befindet, lautet wie folgt:

In der Landesirrenanstalt in Troppau im Mai 1914 habe ich einen tschechischen Werkzeichner kennengelernt, dessen Schicksale und Begebenheiten mich später nicht mehr loslassen sollten.

Das war kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges.

Ich war nach Troppau gekommen, einen Freund aufzusuchen, den Psychoanalytiker Dr. Otto Gross, der in der Anstalt interniert war.

Gross war in Berlin in der dortigen Wohnung meiner Frau festgenommen worden, auf seine Anzeige seines Vaters hin, Professor an der Universität Graz, dessen “Handbuch für den Untersuchungsrichter“ noch heute als Autorität international anerkannt ist: es müsse die erste Aufgabe eines Untersuchungsrichters sein, dem Verdächtigen jene Sicherheit wegzunehmen, die aus der vermeintlichen Überzeugung stammt unschuldig zu sein.

Meine Verbindung zu Gross, den ich nach Berlin eingeladen hatte, wurde in dieser Anzeige sehr unterschiedlich interpretiert, Erpressung und Zuhälterei. Auf homosexuellen Komponenten beruhend, vor denen der Sohn, der sich nicht selbst verteidigen kann, geschützt werden müsse. Der Professor hatte solche Komponenten als allgegenwärtig in jeder Freundschaft aus klinischen Schriften herausgelesen, die Otto Gross als Assistent in der psychiatrischen Klinik von Kraepelin veröffentlicht hatte; kein unbegabter Schüler seines Sohnes. Die Vater-Sohn Beziehung war bereits in ein kritisches Stadium getreten.

Dem berühmten Grazer Rechtsgelehrten tat die preußische Fremdenpolizei den Gefallen und nahm den Sohn ohne Überprüfung der Anzeige oder weitere Untersuchung einfach fest, transportierte ihn zur Grenze, wo die österreichischen Gendarmen ihn bereits mit einer Internierungsorder in Empfang nahmen, vorerst Landesirrenanstalt Troppau, zur weiteren Verfügung des Vaters, der die gesetzlichen Unterlagen vorbereiten wird. Die Anzeige gegen mich, Vorwand für die Ausweisung, das Alibi der Fremdenpolizei, geriet sofort in Vergessenheit; ich bin niemals zur Sache selbst vernommen worden.

Ich war gerade mit meiner ersten Veröffentlichung “Das Trottelbuch“ herausgekommen, mit einem bemerkenswerten Erfolg und einem gewissen Ansehen, das mir gestattete eine Reihe von prominenten Persönlichkeiten für eine Aktion zur Befreiung von Otto Gross einzuspannen.

Ich hatte mir eine in München erscheinende Zeitschrift “Revolution“ geborgt und füllte sie mit Protesten gegen den Vater von Literaten und Journalisten, Künstlern und Politikern, Psychoanalytikern, Sozialisten und Anarchisten mit bekannten Namen, Freunden und Außenstehenden aus aller Welt. Aus der Art, wie ich diese Zeitschrift vertrieb – jedes Kaffeehaus in Graz wurde mit Dutzenden von Exemplaren beliefert, die Lesesäle der Universitäten, die Professor-Kollegen - war zu ersehen, dass ich darauf aus war, den Mann zur Strecke zu bringen.

Mit dieser Zeitschrift war ich in Troppau erschienen, zum Schrecken der dortigen Behörden und der Verwaltung der Irrenanstalt.

Ich kam, in München meine Doktorarbeit über Steuerfragen in der Zündholzindustrie im Stich lassend, bereits als Sieger.

Die großen Tageszeitungen und führende Zeitschriften wie die “Zukunft“ hatten die Kampagne aufgegriffen und auf eine breitere politische Ebene gehoben: Rechtsprofessor vergewaltigt die Justiz, österreichische Justiz greift in Preußen ein; es war ein richtiges Fest. Der Vater hatte inzwischen um Frieden gebeten und die Anzeige wie die Internierungsorder öffentlich zurückgezogen. Otto Gross würde nach einigen Wochen freiwilliger Kur aus der Anstalt entlassen werden.

Für mich bedeutete Otto Gross das Erlebnis einer ersten und tiefen Freundschaft. Ich hätte mich mit Freuden für ihn aufgeopfert und ich war ausgezogen ihn zu befreien. Dabei stand ich, genau gesagt, ihm nicht einmal besonders nahe. Eine Mischung von Respekt und Glaube, das Bedürfnis zu glauben, zu lernen und zu verehren, zu verarbeiten, was er uns einhämmerte, in oft unzusammenhängenden abgerissen assoziativen Sentenzen. Für Gross selbst war ich nicht viel mehr als eine Figur auf dem Schachbrett seiner Gedankenkombinationen, die hin und her geschoben werden. Zudem war es schon schwierig genug den Gedankengängen zu folgen, besonders im Rahmen persönlichen Zusammenseins. Es gehörte Phantasie dazu – zu Gross zu stehen.

Später ist die Freundschaft zu Ende gegangen und hat eine tiefe Bitternis zurückgelassen.

Ich glaube, Gross schob mir die Schuld zu, die Freunde, das ist die Familie, ihm entfremdet zu haben. Allmählich baute sich in ihm eine Vorstellungswelt auf, die nicht mehr sehr weit von der Anzeige seines Vaters entfernt war. [Hervorgehoben von mir, R.D.] Es war schon in den Jahren des Krieges. Keiner wird heil einen Krieg überstehen, der ihn zum wenigsten nicht mit angezettelt hat. Gross funktionierte in untergeordneter Stellung, als Militärarzt in einem Feldlazarett. Von dort aus kann man zwar einzelne Leute mit einem guten Attest nach Hause schicken, aber man kann natürlich nicht die Welt bewegen.

Ich war zu Gross im Winter 1914/15 nach Wien gekommen, er hielt sich regelmäßig für einige Tage im Monat in Wien auf. Ich hatte die feste Überzeugung, dass er mit helfen würde. Ich war in den ersten Kriegsmonaten von der Front in Polen desertiert, mit großen Schwierigkeiten über Berlin und einen Aufenthalt in einer Berghütte oberhalb Tegernsee nach Wien gekommen. Ich kam sehr ungelegen. Gross hatte inzwischen die Wärme gefunden, die ihm in den Jahren vorher so gefehlt hatte – Frauen, die ihn verehrten, die ihn beschäftigt hielten, die in vergessen ließen, dass er selbst vorerst noch ein Außenseiter, ein Ausgestoßener war. Gross wusste mit mir nichts anzufangen, er konnte auch nichts tun, die bestehenden Dienstvorschriften in Betracht gezogen.

Neue Beunruhigung ging von mir aus, beinahe Bedrohung, in Zeiten gleich diesen, Krieg und alles das. Er hatte mich in einem Stundenhotel untergebracht, wodurch die Anmeldung vermieden werden konnte, aber ich wurde dort sehr bald verhaftet und nach einigen Monaten Haft in der Elisabeth Promenade - dort hätte Gross intervenieren können, einen Anwalt besorgen, wie er versprochen hatte - per Schub nach Deutschland gebracht, zur weiteren Behandlung. Es ist nicht das, was zählt und des Erinnerns wert. Gross ist nicht stark genug gewesen einen Kampf anzufangen und sich darin zu behaupten. Opium und Kokain haben ihn später über diese Schwäche hinweggeholfen. Was geblieben ist - das Gefühl der Distanzierung, der Entfremdung, der Schwankungen im Hoch und Tief menschlicher Bindungen, das zählt. Ich hatte damit nicht gerechnet. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, dass ich plötzlich selbst vor diese Wand gestellt war und, ohne Möglichkeit in einer Auswegsanalyse mich zu verkriechen, durch Gross selbst. [Hervorgehoben von mir, R.D.]

Ich möchte wiederholen: Nicht dass die äußeren Vorgänge eine besondere Rolle gespielt hätten oder überhaupt des Erwähnens später noch wert sein würden…. der kalte November Morgen an der polnischen Front, vor dem Befehl zum Abmarsch aus der Reihe vorgetreten, inmitten all der Herren Kanarienvögel vom Garde Grenadier Regiment Nummer 5 Spandau, mit Erfahrungen in Belgien bereits hinter sich und noch beutebeladen. Ich gehörte zu dem eben eingetroffenen ersten Nachschub, hatte die Nacht in einem Kuhstall verbracht, mit dem eingeteilten Zug, genauer gesagt, mitten in der Kuhscheiße, denn die Leute hatten mir nicht Raum gegeben an den Seitenstegen…. der Neukommer, der neue Kamerad…. ich hätte ebenso auch draußen neben der Straße erfrieren können. Ich wollte einfach nicht mehr, ich hatte schon vorher nicht gewollt. Ich wusste, ich halte das Schicksal in der Hand wie eine geballte Kugel: ich ließ sie einfach fallen.

Es machte nichts. Ich wurde auf einen Fouragewagen geworfen und der Kompagnie nachgefahren, zur späteren Behandlung. Es kam zwar nicht dazu, inzwischen war so etwas wie eine Schlacht in Gang gekommen. Von allen Seiten wurde geschossen, alles geriet völlig durcheinander und keiner wusste mehr recht wohin und woher. Und ich entfernte mich. Schließlich waren wir eine Gruppe von einem guten Dutzend, die in der Richtung Heimat marschierten…. Dir Kaiser Wilhelm haben wir geschworen, Dir Kaiser Wilhelm drücken wir die Hand….

Abenteuer genug und kritische Situationen bis nach Berlin und von Berlin - ich kam nicht gelegen, meine Frau hatte sich bei einem Liebhaber einquartiert, der selbst ein Flüchtling war wenngleich Musiker, und den ich Jahre später in Moskau auf der Straße zufällig wieder getroffen habe, damals war er zum Ballettmeister in Granowskis Jüdischem Theater avanciert - von Berlin quer durch Deutschland, von Bahnhofshalle zu Bahnhofshalle, bis zu dieser Hütte oben über dem Tegernsee, von hohem Schnee zugedeckt und unzugänglich …. es ist der Schnee, der mit heute fehlt…. dort erreichten mich endlich die Papiere, die mich hätten zu Gross führen sollen. Ich streife das alles nur, weil es eben unwichtig ist.

Ebenso schließlich wie das Auf und Ab in der Zimmerkabine im Stundenhotel, wo ich Tage um Tage auf Gross wartete, die rhythmischen Geräusche hinter den dünnen Zwischenwänden, das Hin und Zu und das Rein und Raus inmitten des Gestammels und der Seufzer…. bis ich dann verhaftet wurde. Irgendetwas stimmte da nicht. Zu diesem Ziel war ich nicht ausgezogen: auf eigene Füße gestellt zu sein, den Weg allein sich freimachen müssen aus der Falle, die unser Leben aufstellt, von Jahr zu Jahr wie die entsprechenden Ringe am Baum, plötzlich vor einem Eigenziel zu stehen …. das war es nicht, was mir vorgeschwebt hat. Aber es ist eben so gekommen. Ich landete damals auch im Irrenhaus, zur Beobachtung, und es war alles in allem nicht das Schlimmste, auch nicht die vielen Monate in der Zelle in der Festung Spandau. Ich bin aus eigener Kraft wieder freigekommen. [Hervorgehoben von mir, R.D.] Ich hatte nur den Gegner zu studieren und die beteiligten Personen und ich habe sie auf einem vorgetäuschten Schachbrett in die geeignete Stellung schoben, die Figuren meist aus geknetetem Kommissbrot. In bin keineswegs stolz darauf, jemand hätte mir helfen sollen.

Ich habe nichts aufgegeben. Ich habe auch nichts verloren. Etwas hat nur mehr Gewicht bekommen und ist tiefer nach innen gerutscht. Die Distanz, das Fremdsein, der Trennungsstrich. Vielleicht ist das so, wenn man plötzlich erwachsen wird: Wird das so bleiben?…. es wird bleiben, Sohn. [Hervorgehoben von mir, R.D.]

Otto Gross ist in den ersten Monaten nach den Unruhen nach dem ersten Weltkrieg auf der Strasse in Berlin buchstäblich verhungert.

Es wäre nicht wahr, wenn ich heute etwa die Lust verspüren sollte und gestehen, ich hätte ihn im Stich gelassen. Es war etwas in unsere neue Verbindung hineingekommen wie ein toter Punkt, der nicht mehr zum Entflammen zu bringen war. Eine solche Flamme aber ist notwendig, wenn man etwas vollbringen soll, was normalerweise als unmöglich erscheint. Ein Wunder, das sich immer wiederholt, wird recht fadenscheinig.

Gross war kein Schwächling. Er kämpfte verzweifelt gegen das Überhandnehmen der Rauschsucht. Er war sich durchaus bewusst, was für ihn, der gerade wieder angefangen hatte zu publizieren, dabei auf dem Spiele stand, aus dieser letzten Falle, der Abhängigkeit von Opium und Kokain noch einmal herauszukommen. Gross hatte um Zeit zu kämpfen sich wieder in die Hand bekommen. Es war trotzdem noch notwendig, ihm regelmäßig die Rauschgifte zu besorgen. Von dem was ich ihm verschaffen konnte, ging mehr wie die Hälfte sogleich verloren, Gross verstreute es oder warf es einfach weg, im Unterbewusstsein. Ich hatte besondere Gruppen zu organisieren, die ihm täglich sein Quantum zu verschaffen hatten. Ich selbst habe nicht viel dazu getan, ich blieb im Grunde abseits, auch eigentlich von Gross auf eine mehr neutrale Stellung abseits gestellt.

Gross war auf der Suche nach neuen Freunden. In der damaligen Lage wäre für Gross keine andere Möglichkeit mehr gewesen als sich zu unterwerfen. Ich wusste, dass er dies niemals tun würde.

Die Operationen zur Beschaffung der Rauschgifte gingen einige Wochen mit der Welle revolutionärer Unruhen verhältnismäßig leicht. Später brachte ich die drei Leute immer schwerer zusammen, die absolut notwendig sind, um eine Nachtapotheke mit einer Mindestaussicht auf Erfolg zu überfallen und den Fluchtweg zu abzusichern. Und Gross hatte seine neuen Freunde gefunden, die sich an ihn klammerten, den Vorstoß in eine neue Welt von ihm erhofften. Das war zu viel, zu schwer beladen: Statt Verständnis, Geduld und etwas mehr Wärme eine neue Führerrolle… auch andere wären daran zerbrochen. Es blieb Gross schließlich nicht mehr die Kraft, jemanden aufzusuchen und wenn es nur gewesen wäre, um für einige Zeit dort unterzukriechen. Eines Nachts hat er sich in einen sonst unbenutzten Durchgang zu einem Lagerhaus im Stadtviertel Moabit – eine Kleinbürgergegend, die sicherlich Gross vorher niemals aufgesucht hat – geschleppt und ist dort liegen geblieben. Zwei Tage später wurde er aufgefunden, ärztlich schon nicht mehr zu retten.

Der Stern eines großen Kämpfers gegen die Gesellschaftsordnung, Profilierung und Auflösung der menschlichen Bindungen mittels der Deduktionen der Psychoanalyse, Zersetzung der Familie und des Staates – der Stern ist explodiert, verlöscht und untergegangen. Die Zeit war nicht reif, das Gesindel der Satten noch zu zahlreich. Vorläufig ist der Einzelne noch machtlos gegen sein Verhängnis.

Der Zusammenbruch traf mich nicht unvorbereitet. Das Gewicht war ein wenig tiefer nach unten gerutscht und hatte bereits angefangen, sich nach weiteren Stützpunkten vorzutasten, um Wurzeln zu schlagen, so zu sprechen. Es hatte bereits zu keimen begonnen, in der Landesirrenanstalt Troppau und ist seitdem gewachsen und wächst immer noch.” (Franz Jung, Akzente II, NL LF, AAK, Akte 45, Blatt 193-214)

Fakten und Fragen

Die von Jung geschilderten Ereignisse vor und nach seiner Verhaftung in Wien sind weitgehend zutreffend und auch an anderer Stelle dokumentiert: Jung – zunächst wegen einer Verwundung beim burschenschaftlichen Mensurfechten für untauglich erklärt – schreibt am 2. August 1914 an Kaiser Wilhelm II., um sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. Gehört er zu denen, die wie Erich Mühsam hofften, „dass das Militär in Deutschland besser sei als die deutsche Staatskunst“ (Erich Mühsam, Tagebucheintragung vom 8. 8. 1914, in: Mühsam, Tagebücher, München 1994, S. 108)? War es die „Ehekrise“, die ihn „zur Flucht ins Feld und wieder zurück“ trieb, wie Herbert Braun mutmaßt? (Braun, Das Menschliche hinter der Wand, 2001) Oder war Jung der Gross’sche Prototyp des Kämpfers, für den der „Krieg [...] der gewaltigste psychische Befreiungsakt der Menschheit, die heilsamste Massenentfesselung aller Komplexe“ (Becher, Abschied, Berlin 1975, S. 376) und an dessen Ende die Zerschlagung der Vaterrechtsfamilie steht und der daher notwendig ist?

Nachdem Jung das Kriegsministerium am 12. 8. den Eingang seines „Anerbietens für den Dienst des Vaterlands bestätigt hatte, verweist ihn der Zivilvorsitzende der Ersatz-Commission des Aushebungsbezirks Berlin VII am 14. 8. auf den gewünschten Truppenteil, nach sechs Wochen Ausbildung kommt Jung in das Gebiet von Tannenberg. In den Kämpfen bei Brzeziny wird er am 20. November leicht verwundet, wegen allgemeiner Erschöpfung und mit Beingeschwüren mit einem Gefangenentransport nach Kolo gebracht, schließlich am 30. November in das Lazarett nach Züllichau (wo ihn Margot Jung und Walter Serner besuchen). Dort stellen sich Kopfschmerzen, Angstzustände, Symptome eines Nervenleidens ein, für das Jung die Säbelverletzung aus den Studententagen verantwortlich macht. Er wird zur weiteren Behandlung nach Berlin gebracht wo Walter Serner am 14. Dezember in Berlin bestätigt, daß "Herr Franz Jung heute mittag auf der Straße infolge Herzschwäche ohnmächtig wurde und in meine Wohnung gebracht werden mußte". Jung hat sich an diesem Tag unerlaubt von der Truppe entfernt. Nach seinem Verschwinden gibt seine Schwiegermutter Pauline Scholz am 5. Januar 1915 bei der Kriminalpolizei in Berlin-Schöneberg zu Protokoll, dass ihr der Aufenthaltsort ihres Schwiegersohns "völlig unbekannt" ist, einen Tag später gibt Serner dort an, dass er seit dem 16. Dezember nichts mehr von Franz Jung gehört habe. Im Bericht der Behörde wird demzufolge festgestellt, dass Franz Jung und seine gleichfalls unauffindbare Frau Margot zweifellos die Flucht ergriffen haben. Folglich wird am 9. Januar gegen Jung Haftbefehl erlassen.

Der Krieg hatte schnell Formen angenommen, die mit den bis dahin bekannten Formen militärischer Konfliktbewältigung nicht in Einklang zu bringen waren. Auch im Umfeld des Kreises von Otto Gross forderte er Opfer: So sterben Max Graf, Fritz Oehring und Emil Lask, Oskar Kokoschka wird schwer verwundet. Gross selbst arbeitet seit dem 12. Januar als Arzt im Franz-Josef-Spital in Wien, wohin er evakuiert worden ist. Seinen Posten verliert er, als bekannt wird, dass er unter Kuratel steht.

Bereits am 2. Februar 1915 wird Jung’s Frau Margot in München, tags drauf auch Cläre Otto verhaftet, letztere wird aber schon nach kurzer Zeit auf Bürgschaft des Vaters wieder entlassen. Jung selbst wird schon am 5. Februar bei Otto Gross in Wien festgenommen und nach Berlin gebracht.

Am 10. März beginnt in Berlin der Prozess gegen Jung, der bis zum 15. März dauert. Jung gibt im Verlauf der Verhandlung an, dass er auf seiner Flucht zunächst nach Salberg im Riesengebirge gereist sei, dann nach München, um sich von Prof. Schrenck-Notzing behandeln zu lassen. Da dieser nicht anwesend gewesen sei, sei er nach kurzem Aufenthalt in Tegernsee und Stuttgart nach Wien gereist. "Dort wohnt mein Freund der Arzt Dr. Groß, welcher Psychiater ist und meine Verhältnisse als langjähriger Freund genau kennt. [...] Ich traf ihn erst am Tag vor meiner Festnahme und er riet mir, erst gründlich auszuschlafen und mich dann sofort dem Deutschen Konsulat zur Rückbeförderung zu stellen. Bevor ich dies ausführen konnte, wurde ich ergriffen und hierher gebracht." Am 11. März sagt Margot Jung vor Gericht aus. Die Verhandlung wird unterbrochen, Margot Jung setzt ihre Aussage am 15. März fort. Am 1. April wird Jung in der Psychiatrie in Berlin-Wittenau aufgenommen. Dort gibt er u.a. an: “Wegen Myopie wollte ihn Otto Gross in Wien psychoanalytisch behandeln" Und: "Herr Jung gibt an, er sei gelegentlich psychoanalytisch behandelt worden von den Ärzten Dr. [Arthur] Ludwig und dem Privatdozenten Dr. [Wilhelm] Specht in München, systematisch aber 1/4 Jahr lang von Dr. Otto Gross in Wien. Dieser habe seine ( - des Herrn Jung - ) Nervosität zurückgeführt auf psycho-erotische Beziehungen zu der verstorbenen Schwester. Diese Beziehungen hätten Sexualscheu hervorgerufen und letztere wieder die allgemeine Neurasthenie u. Zerfahrenheit." Die Zeit vom 4. bis zum 29. Mai verbringt Jung im Spandauer Festungsgefängnis, bis zum 16. Juni ist er in der Spandauer Kaserne. (Alle Angaben nach Mierau, Leben und Schriften des Franz Jung, in: Schulenburg (Hrsg.): Der Torpedokäfer, Hamburg 1988, S. 141-142; v. Olenhusen, Wahnsinn in den Zeiten des Krieges, in: v. Olenhusen u. Heuer (Hrsg.), Die Gesetze des Vaters, Marburg 2005, S. 94-97, 104)

"Aber die Freunde lassen mich im Stich ...“

Es ist in diesem Zusammenhang eigentlich unerheblich, aus welchen konkreten Motiven heraus, Franz Jung später seine, einer doch relativ großen Öffentlichkeit bekannte Autobiographie “Der Weg nach unten“ mit eben jenen Gross-Bild versah, das in der Folge über weite Strecken die spätere Sicht auf diesen bestimmte. Es ist aber eher unwahrscheinlich, dass er sich dabei dem Wunsch eines Lektorats oder Verlages beugte und einschneidenden Kürzungen an dieser Stelle zustimmte: seit 1920 war die von ihm geplante Gross-Werkausgabe ein Desiderat, mit dem er sich - wie wir jetzt wissen - schwerer tat, als angenommen. Wir wissen, dass ihn sein Verhältnis zu Otto Gross über weite Strecken seines Lebens beschäftigte und können heute den tieferen Grund - weil es in einer traumatischen Situation kulminierte - bestimmen. Der Freund trug entscheidend dazu bei, dass er dem Gegner wehrlos ausgeliefert war. Er verschaffte nicht die lebenswichtigen Hilfen, die er versprochen hatte, ließ ihn allein und hilflos zurück. Er war ihm nicht wichtig genug! Es ist wohl der prekären Lage geschuldet, dass Jung nicht zu erkennen vermochte, dass ihm von Gross in dieser Zeit keine Hilfe kommen konnte - auch wenn er sah, dass dieser zunehmend "eine Vorstellungswelt auf[baute], die nicht mehr sehr weit von der Anzeige seines Vaters entfernt war".

Alle späteren Lesarten Jungs Gross betreffend sind wohl vor allem von politischen Kalkül geprägt: er hielt den Ansatz von Gross nach wie vor für bahnbrechend wichtig – wie die Erkenntnisse Fuhrmanns und Reichs - allein ihm hatten sie, als es nötig war, nicht geholfen. Aber das war ja nicht des Erwähnens wert. Und so ist das Lebens-Resümee, das Jung im “Weg nach unten“ zieht, vor dem Hintergrund seines Schlüsselerlebnisses mit Otto Gross neu zu lesen. “Ich bin ein Opfer meiner Freunde, nicht meiner Feinde. Ich liebe meine Feinde – weil sie dumm sind. Aber ich verstehe sie besser als meine Freunde. Sie sind diejenigen, die sich weigern werden, mir in die Hölle zu folgen. Natürlich gehe ich zur Hölle; Ehrensache. Das ist der Platz, wohin ich gehöre. Aber die Freunde lassen mich im Stich ...“ (Jung, Weg nach unten, Berlin 1991, S. 474)

Danksagung

Für anregende Diskussionen und freundschaftliche Unterstützung beim Entstehen dieser kleinen Arbeit danke ich Thomas Iffert und Ralph Grobmann.

Literatur