Es gibt verschiedene Methoden, mit dem eigenen Vater umzugehen: Josef Stalin entlehnte seinen Decknamen "Koba", den er als Berufsrevolutionär führte, beim Helden des Romans "Der Vatermörder" von Alexander Kasbegi und grenzte sich damit mehr als deutlich von seinem gewalttätigen Erzeuger ab. Der ehemalige Stern-Redakteur Tilman Jens erklärte die Demenz seines Vaters Walter zur "Schweige-Krankheit" (FAZ, 4. März 2008), weil dieser womöglich nicht auf die peinlichen Fragen zu seiner NSDAP-Zugehörigkeit antworten mag. Walter Kohl beschrieb in seinem autobiografischen Werk "Leben oder gelebt werden" (München, 2011) recht eindringlich seine verzweifelten Bemühungen, Zugang zum Kanzler-Vater zu finden. Sobald es um dessen Erinnerungen an Kriegserlebnisse, Ängste, Gefühle ging: Schweigen. Die Autoren von "Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis" (Frankfurt, 2002) sprechen gar davon, dass die Aufklärung über die NS-Verbrechen und den Holocaust den paradoxen Effekt mit sich bringt, die eigenen Eltern und Großeltern zu Regimegegnern, Helfern und alltäglichen und sogar expliziten Widerständlern zu stilisieren. Jetzt kann von einer Veröffentlichung berichtet werden, die diese These zu illustrieren scheint und vielleicht Aufschluss über die, diesem Verhalten zugrunde liegenden Triebkräfte liefert.

Es ist das persönlichste Buch Bernd Ziesemers (der sich zuvor schon monografisch an großen Unternehmerpersönlichkeiten und ihnen drohenden Neidfallen versucht hat) verrät uns der Klappentext zu "Ein Gefreiter gegen Hitler. Auf der Suche nach meinem Vater" (Hamburg, 2012). Initialzündung war nach Angaben des Autors zweierlei: Die nicht gestellte Frage des eigenen, in Israel lebenden Enkels nach dem Verhalten von Ziesemers Vater Karlheinz als Soldat im 2. Weltkrieg und das Bemühen des Autors, die Militärlaufbahn des Vaters zu rekonstruieren, nachdem er von der Mutter ein 24-seitiges Manuskript des Vaters mit Lebenserinnerungen erhalten hatte. Die Übergabe des schmalen Konvoluts hat offenbar beim Autor das Interesse wieder erweckt, selbst Antworten auf Fragen zu erhalten, die noch zu Lebzeiten des Vaters, der 1978 starb, von ihm nicht gestellt wurden.

Nun könnte man erwarten, dass dem interessierten Leser zunächst die Aufzeichnungen des Soldaten Karlheinz Ziesemer präsentiert werden, um sich selbst ein Bild zu machen, womöglich eine ähnlich packende Geschichte, wie die des Eugen Herman-Friede in "Für Freudensprünge keine Zeit. Erinnerungen an Illegalität und Aufbegehren 1942 - 1948" (Berlin, 1992) erzählt wird. In der 286 Seiten umfassenden Veröffentlichung Bernd Ziesemers findet sich der Text aus dem Nachlass des Vaters allerdings lediglich in einzelnen Sätzen zitiert an passender Stelle, wenngleich die Tour d'horizon, zu der der Autor einlädt, durchaus all die Stationen umfasst, an denen sich der Vater im Kriege aufgehalten hat. Es sind allerdings nicht die Erinnerungen des jungen Soldaten, die die Folie für die Beschreibung liefern, sondern die Interpretationen des Autors, der sich die Aufzeichnungen des sich Erinnernden zu diesem Zweck zunutze macht. Erzeugt diese eklektische Methode zunächst nur das Gefühl, dass hier bewusst ausschließlich die Passagen zitiert werden, die die Auffassung des Autors stützen, gerät die Schilderung vollends in eine Schieflage, wenn neben die Beschreibung der Situation des einfachen Soldaten Karlheinz Ziesemer beispielsweise die Widerstandsaktionen der Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg gestellt werden. Die bloße Tatsache, dass der Vater als Kradmelder aus Polen Dossiers nach Belgien und Frankreich befördert, die womöglich im Kontext des Attentats auf Hitler zu sehen sind, lässt ihn - ohne dass er um den Charakter und Inhalt der Dokumente, die er mit sich führt, weiss - so zum Widerstandskämpfer werden, erhebt ihn quasi selbst in den Adelsstand der hochgestellten Verschwörer. Dieser Wunsch nach Erhöhung entspricht allerdings ganz und gar nicht dem Impetus des kriegsteilnehmenden Vaters, sondern wohl eher den Wunschvorstellungen des Sohnes. Plötzlich haben wir nicht mehr den Gefreiten Karlheinz Ziesemer vor uns, sondern den nach Höherem strebenden Sohn Bernd, der uns die Welt erklärt und der durch diese Manipulation selbst aus dem Kleinbürgertum in die Kreise der - zumeist noch dazu blaublütigen - Resistenten aufsteigt, sich neben die von der Schulenburg und von Stülpnagel einreiht, und damit den Makel abgestreift hat, gewöhnlich zu sein. Dabei ist der Sohn dem Vater keinen Schritt näher gekommen, hat keinen Zugang zur Lebenswelt des Vaters gefunden und bleibt am Ende so ratlos zurück, wie er zu Anfang fraglos war.

Die Methode des Sohnes tut im übrigen dem Vater unrecht, der - wenn wir die Geschichte recht lesen - durchaus der Schwejkiade fähig war, um zu überleben, der sich durchschlägt und vieles mitmachen muss, was andere nicht ausgehalten haben, sich schließlich im Schaumburgischen ein Refugium als Bezirksdirektor einer Versicherung mit einem auskömmlichen Dasein, Familie schafft und den ich als netten, freundlichen, vielleicht ein wenig versonnenen älteren Herrn kennengelernt habe.

Mindestens ratlos bleiben nach der Lektüre von Bernd Ziesemers Elaborat wohl auch seine ehemaligen Mitstreiter aus den Reihen der maoistischen KPD und ihrer Vorläuferinstanzen zurück, deren Verfassung er in der vorliegenden Veröffentlichung reichlich kommmentiert. Es hat Grass'sche Methode, wenn er bei der Reflektion seiner eigenen politischen Entwicklung vom Ich zum Wir wechselt und das politische Handeln als "Wolke des Absurden" (S. 17; sic!), die politischen Auffassungen als "Pseudowissen" (NB) und "inhaltslos" (ebenda) diffamiert. Seine persönliche Motivation in damals führender Position im Zentralkomitee des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD) vermag er ebenso wenig zu erklären, wie es ihm gelingt, die Triebkräfte des Denkens und Handelns seines Vaters zu entschlüsseln. Für die Fragen der Enkel scheint der Sohn - trotz vieler Worte - schlechter gerüstet als der Vater, dem sie nie gestellt wurden.